Gewandhauskomponistin Sofia Gubaidulina in Kürze

Lange hat es gedauert, bis Sofia Gubaidulina bekannt wurde. Sie war fast 50 Jahre alt, als in Wien Gidon Kremer ihr Violinkonzert Offertorium aus der Taufe hob, lebte in einer Moskauer Zweizimmerwohnung und erlebte staunend, wie sich nun »alle Türen öffneten« – und bald auch der Eiserne Vorhang. Heute, 90 Jahre nach ihrer Geburt im tatarischen Tschistopol, zählt Sofia Gubaidulina zu den meistgespielten Komponistinnen zwischen Chicago und Tokio.

Die Komponistin lebt in einem Dorf bei Hamburg und ist von so ungebrochener Produktivität, dass ein Drittel der Werke, mit denen das Gewandhausorchester sie feiert, dem jüngsten Jahrzehnt entstammt. Für gleich drei Spielzeiten ist sie »Gewandhauskomponistin«.

Ihre früheste Beziehung zu Leipzig ist eine ferne, musikalische. Den ersten öffentlichen Erfolg hatte Gubaidulina, als 1962 in Moskau ihre Chaconne in memoriam J. S. Bach für Klavier uraufgeführt wurde. Bach ist für sie einer der wichtigsten Komponisten, nicht minder aber Dmitri Schostakowitsch, der sie persönlich darin bestärkte, ihren eigenen Weg zu gehen, ohne Rücksicht auf die sowjetische Musikdoktrin. Diesen Weg hatte sie früh beschritten, als sie fünf Jahre alt war und ein Klavier für sie angeschafft wurde. »Meine Kindheit und Jugend waren völlig uninteressant und grau, Musik war für mich etwas Helles und Himmlisches.« Und schon bald komponierte sie für sich selbst.

Indessen war es besonders in der Sowjetunion nach dem »Tauwetter« kaum möglich, im Musikbetrieb so eigensinnig zu sein wie sie. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich mit Filmmusik, doch wohin sie künstlerisch wirklich ging, das hört man im Ersten Streichquartett von 1971, in freier, organischer Auffaltung des Tonraums. Fünf weitere Werke aus der Zeit vor dem einsetzenden Ruhm sind seit September 2020 im Gewandhaus zu hören, darunter auch das Klavierkonzert Introitus von 1978, in das Erfahrungen aus der Improvisation mit östlichen Ritualinstrumenten einfließen und die Halbtonwelt des Klaviers sich mit Mikrointervallen des Orchesters trifft.

Dabei entstehen schon Klänge von jener spirituellen Sinnlichkeit, die wenig später auch das Offertorium prägt, eine Partitur von einzigartiger Sogkraft, eingeleitet vom Thema aus Bachs Musikalischem Opfer. Gidon Kremer hat das Werk auch 1993 mit dem Gewandhausorchester gespielt. Zu dieser Zeit war die Komponistin bereits aus Moskau in die Nähe von Hamburg gezogen und konnte sich vor Aufträgen kaum retten. Für Chicago schrieb sie 1996 das Konzert für Viola und Orchester, das von einem in allen Lagen und Farben gesetzten d der Viola in einen fast tropischen Orchesterwald führt, eine Welt, in der vierteltönige Verschiebungen und Wagner-Tuben harmonisieren.

Explizit ging sie ihrer spirituellen Naturbeziehung im Sonnengesang (nach dem Text von Franz von Assisi) nach, den sie 1997 für Violoncello, Chor und Schlagzeug vertonte. In nahezu jedem Werk bezieht sich Gubaidulina auf eine Idee, ein Programm, eine Botschaft.

Das wohl persönlichste ist So sei es, 2013 komponiert nach dem Tod des Freundes und Kollegen Viktor Suslin, für Violine, Kontrabass, Klavier und Schlagzeug. Die gemeinsame Liebe zu Bach lässt hier das B-A-C-H-Motiv bedeutsam werden, das schon in den Reflektionen über B-A-C-H (2002) in die Strukturen eines Streichquartetts eingesenkt ist.

Für das Boston Symphony Orchestra schrieb Sofia Gubaidulina 2017 ihr Tripelkonzert, das gute Chancen hat, seinen Beethovenschen Vorläufer in den Schatten zu stellen. Zu Violine und Violoncello kommt hier im Solistentrio statt des Klaviers ein Knopfakkordeon – das russische Bajan, dessen Atmen das Stück ebenso prägt wie das Grundmaterial. Aus den Tönen e und es wird mit größter Intensität ein Raum entwickelt, der sich nach und nach öffnet. Während hier Solisten und Orchester von Anfang an verschmelzen, ist ein Jahr später das Gegenüber von Violine und Orchester die Grundbedingung für Dialog: Ich und Du, inspiriert vom Hauptwerk des Religionsphilosophen Martin Buber.

Gubaidulina hat von Kindheit an einen langen kreativen Glaubensweg zurückgelegt, nicht nur innerhalb der christlichen Erlösungsgeschichte. Ihr Gottesbild entspricht den Einleitungsworten von Schönbergs Moses und Aaron: »Einziger, ewiger, allgegenwärtiger, unsichtbarer und unvorstellbarer Gott.« Ihm gilt das jüngste der Werke, die im Gewandhaus gespielt werden, wenn auch pandemiebedingt nur für eine CD-Produktion ohne Publikum. Der Zorn Gottes (2019) hat über den Titel hinaus keinen Text. Massive Statements der Blechbläser öffnen sich zu reichen Strukturen, die den Orchestersprachen der Spätromantik näher denn je im OEuvre dieser Komponistin sind.

Doch das kann, da sie anstelle eines »Spätstils« immer neue Ansätze findet, beim nächsten Stück schon wieder anders sein. Es heißt Prolog, wurde vom Boston Symphony Orchestra und dem Gewandhausorchester gemeinsam in Auftrag gegeben und wächst zurzeit noch seiner Vollendung entgegen. - Volker Hagedorn


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