Gewandhausorchester, Vasily Petrenko

GEDULDSPROBENARBEIT

Das Mahler-Festival wirft seine Schatten voraus. Auch die Fäden dieses russischen Programms laufen bei Mahler zusammen, den Schostakowitsch als Komponist und Rachmaninoff als Dirigent verehrte. In New York brachte Mahler Rachmaninoffs 3. Klavierkonzert zur Aufführung – der Komponist selbst saß am Klavier. Rachmaninoff hatte das Konzert eigens für seine USA-Tournee komponiert und während der Überfahrt auf einer stummen Klaviatur einstudiert. Mahler ist der einzige Dirigent, den ich für gleichrangig mit Arthur Nikisch erachte. Er widmete sich meinem Konzert mit vollkommener Hingabe und probte, bis die Orchesterbegleitung, die ziemlich kompliziert ist, zur Perfektion gelangte. Und das, obwohl er bereits eine lange Probe hinter sich hatte. Mahler legt Wert auf jedes noch so kleine Detail der Partitur – eine Haltung, die leider unter Dirigenten selten ist.

ABGRUNDTIEFE MENSCHLICHKEIT

Noch vor kurzer Zeit hieß es, Mahler sei ein hervorragender Dirigent, aber als Komponist bedeutungslos. Wie zutiefst ungerecht das ist! Schostakowitsch, der Mahlers Musik unter dessen Assistent Bruno Walter erlebte, brach für den umstrittenen Komponisten die Lanze: Was fesselt an seiner Musik? Vor allem tiefe Menschlichkeit. Er drang in verborgene Winkel des menschlichen Bewusstseins, ihn bewegten höchste Ideale. Unbändiges Temperament, heiße Liebe zu den Menschen in Verbindung mit wundervoller Begabung – Worte, die sich auf Schostakowitschs eigenes Schaffen übertragen lassen.

IDEE UND IDEOLOGIE

Die Satztitel von Schostakowitschs 12. Sinfonie verweisen auf Ereignisse des Jahres 1917, Lenins Versteck und den Panzerkreuzer, dessen Salve am 25. Oktober das Signal für den Sturm des Winterpalais’ gab. Ich bin selbst Zeuge der Oktoberrevolution. Ich war einer von denen, die Lenin am Tag seiner Ankunft hörten. Obgleich ich sehr jung war, hat sich dies unauslöschlich in mein Gedächtnis eingegraben. Jahrelang trieben Schostakowitsch Plane zu einer Lenin- Sinfonie um. Sie konkretisierten sich, als Lenins Geburtstag sich 1960 zum 90. Mal jährte. Am 1. Oktober 1961 gelangte die Zwölfte in Leningrad zur Uraufführung, bereits ein Jahr später erklang sie im Gewandhaus. Kaschiert das Werk hinter dem offiziellen Programm ganz andere Botschaften? Was offenbart sich in den Klangkatastrophen des Kopfsatzes? Wie ist der gewaltsame Schlusstriumph zu verstehen, der das zersplitterte Orchester in Klangstarre bannt, bis sich die Sinfonie an ihrem Hauptthema totgejubelt hat? Der Memoiren-Autor Volkow lässt Schostakowitsch andeuten: Ich hatte mir eine schöpferische Aufgabe gestellt: ein Portrait Lenins, und endete mit einem völlig anderen Ergebnis. Ich konnte meine Ideen nicht realisieren. Das Material widersetzte sich. Was mit dem ≫völlig anderen Ergebnis≪ gemeint ist, bleibt offen. Die Weisheit des Materials verblüfft.