HERR, UNSER HERRSCHER
Die erste Passionsaufführung des Thomaskantors Johann Sebastian Bach erklang zu Karfreitag, dem 7. April 1724. Kurzfristig wurde der Gottesdienst aus der Thomas- in die Nikolaikirche verlegt. Was den Leipzigern entgegentönte, ist verstörend: Herr! Herr! Herr!, ruft der Chor in das dunkle g-Moll des aufgewühlten Orchestervorspiels hinein, erst eindringlich auf den Schlag, dann hadernd dagegen, als stemme er sich gegen das unausweichlich Bevorstehende. Mühsam windet sich unser Herrscher als Melisma empor. Vergeblich ringen die Sänger sich die Huldigung ab: dessen Ruhm in allen Landen ist. Kein Herrscherglanz fällt ins Passionsdunkel dieser Musik.
OH MENSCH
Ein Jahr später ersetzte Bach das verzweifelte: Herr, unser Herrscher! durch O Mensch, bewein ... in mildem Es-Dur. Aufsteigende hohe Stimmen treten dem niedersinkenden Bass entgegen, ein Choral verbreitet Ruhe und Beständigkeit und bindet die revidierte Passion in den ersten Choralkantaten-Jahrgang ein. Auch die Schlüsse könnten unterschiedlicher kaum sein. Die zweite Fassung mündet wiederum in eine Choralbearbeitung. Für Christe, Du Lamm Gottes griff Bach auf einen Kantatensatz zurück – schwer seufzende Musik, mehr Klage als Anrufung. Zwar weicht das lähmende Adagio in g-Moll einem helleren Andante, doch ein zuversichtliches, affirmatives Ende bleibt aus. Was so gefasst begann, verliert sich im Ungewissen.
ERHÖRE MICH
In Bachs erster Leipziger Passionsmusik hingegen steht dem dunkel aufgewühlten Eingangsein schlichter, warm leuchtender Schlusschoral entgegen: Ach Herr, lass Dein lieb Engelein ... Tröstliches, zuversichtliches Es-Dur markiert hier den tonartlichen Ziel- und nicht den Ausgangspunkt. Lobpreis hat das letzte Wort, doch die Musik widerspricht nicht mehr wie zu Beginn, sondern unterstreicht, indem alle Instrumente sich den Singstimmen anschließen: Dich will ich preisen ewiglich!