FRÜHLINGSSORGEN
Lili Boulanger: hochbegabt, früh gefördert und 19-jährig als erste Frau mit der höchsten musikalischen Auszeichnung ihrer Zeit, dem Rompreis, geehrt; eine Komponistin, die den Durchbruch
geschafft und die Männerdomäne erobert hat. Zugleich eine zerbrechliche junge Frau, die zeitlebens gesundheitliche Einschränkungen hinnehmen musste, keine Schule und nur sporadisch das
Konservatorium besuchen konnte, auf die Fürsorge ihrer ähnlich begabten Schwester angewiesen war und nur 24 Jahre alt wurde. Diese schwer erträgliche Dissonanz hallt wider aus einem Werkpaar, das sich Boulanger 1917/18 abrang – wissend, dass die chronische Krankheit ihr nicht mehr viel Zeit lassen würde. Dem schwermütigen, von existenziellen Schlägen erschütterten Abend (D’un soir triste) stellt sie einen farbenfrohen, heiter verspielten und impressionistisch funkelnden Frühlingsmorgen (D’un matin de printemps) zur Seite.
LANGFINGER WILLKOMMEN
Lautes Gepolter zu Beginn, als sei das Rumpelkammerregal umgestürzt. Aus dem Durcheinander fingert Poulenc Melodien von mozärtlicher Eleganz hervor, bläst den Staub von klassizistisch-grazilem
Figurenwerk und kippt es in die Kiste mit exotisch schillernden, balinesischen Gamelan-Souvenirs von der Pariser Kolonialausstellung des Vorjahres 1931. Um daraus ein griffiges Klavierkonzert zu formen, brauchte es die imposanten Pranken Poulencs und seines Freundes Jacques Février, die sich beim Spiel im Salon der Princesse de Polignac Auftrag und Auftritt mit verflixt wenig Zeit zum
Komponieren und Probieren eingehandelt hatten. Das charmante Kurzkonzert punktlandete beim Festival zeitgenössischer Musik in Venedig 1932 eine erfreulich folgenreiche Premiere.
DAS UNIVERSUM EXPANDIERT
Naturlaut und Volksmusik, Lied und Militärmarsch, Tradition und Vision, Groteske und Schönheit, Klanggewalt und Nuance, Masse und Einsamkeit: Mahlers Musik müsste zerbersten ob der Diskrepanz
des musikalischen Materials. Doch die Spannung extremer Gegensätze macht gerade den Reiz der überwältigenden sinnlichen Erfahrung aus, die uns der 2. Kapellmeister an Leipzigs Theater beschert. Mit verblüffender Zielsicherheit, Durchschlagskraft, Stringenz und Perfektion präsentiert Mahler gleich im ersten sinfonischen Wurf, was seine Sinfonik auszeichnen wird, und gestaltet
seine Musik mit radikaler Offenheit für Eindrücke der Welt – seien sie lautlicher, literarischer oder visueller Natur.