LUSTVOLLER SCHMERZ
Betrachte, meine Seel, mit ängstlichem Vergnügen, mit bittrer Lust… Die Worte des unbekannten Dichters treffen den Wesenskern der Johannes-Passion. Der Bass singt sie, begleitet nur vom Continuo und zwei Streichinstrumenten, die Liebe im Namen führen: Viole d’amore. Zugleich spielt sich eine der grausamsten Szenen der Kreuzigung ab: Das Volk hat die Freigabe Jesu zugunsten des Mörders Barabas abgelehnt, worauf Pilatus seinen Gefangenen geißeln lässt. Bitterste Grausamkeit begegnet entmachtend lustvoller Musik, menschliche Kälte trifft auf göttliche Liebe, sündenbeladene Angst geht auf in erlösend-ergreifenden Klängen.
BEFLÜGELNDER GLAUBE
Wenig später drängt der Bass: Eilt, ihr angefocht’nen Seelen! Streicher stieben auf und die Continuo-Gruppe rennt hektisch umher, ohne Ziel und Richtung. Wohin, wohin?, tönt es aus spitzen Intervallsprüngen schon bevor der Chor die Worte ergänzt. Orientierungslos prallen sie gegen Fermaten und stürzen in Generalpausen. Der Bass weiß Rat: Nehmet an des Glaubens Flügel und lasst Euch tragen vom Heilsgeschehen, das von Golgatha ausgeht.
FRAGENDES HOFFEN
Der Bass leiht auch Christus seine Stimme – bis zum finalen Es ist vollbracht!, das in zwei Arien nachhallt. Die Altistin macht sich eilfertig einen optimistischen Reim darauf: Der Held aus Juda siegt mit Macht!, und die Violinen pflichten in auftrumpfenden Dreiklängen bei. Der Bass hingegen fragt in zögerndem Adagio, nur Continuo-gestützt: Bin ich vom Sterben frei gemacht? Aus dem Chor umfängt ihn die tröstliche letzte von 34 Strophen des Chorals Jesu Leiden, Pein und Tod: Jesu, der du warest tot, lebest nun ohn’ Ende.