Darum nimmt Passionsmusik eine zentrale Stellung im Christentum ein. In dieser traditionsreichen Gattung berühren sich christliche und profane Verwendungsweise des Wortes. Durch Johann Sebastian Bachs Musik entfacht Christi Passion unsere Leidenschaft, das Unbegreifliche wird ergreifend und das Unnahbare geht uns nahe. Bachs Passion nach dem Evangelisten Johannes steht nicht wie ihr Geschwisterwerk nach Matthäus im Verdacht, das größte Kunstwerk aller Zeiten zu sein. Sie heischt nicht nach Superlativen, ist kleiner besetzt und kompakter dimensioniert. Größe entfaltet sie in Bereichen des nicht Messbaren. Mit den Worten von Robert Schumann: die Johannes-Passion ist »kühner, gewaltiger, poetischer als die nach dem Evangelisten Matthäus«.
Der Eingangschor stößt erbarmungslos hinein in das Geschehen. Vor dem nachtschwarzen Grund pochender, dröhnender Bässe klagen schmerzerfüllt die Oboen. Unruhig umkreist von den Violinen ruft der Chor verzweifelt einen »Herrscher« an, dem ein grausamer Tod bevorsteht, und besingt dessen »Ruhm« in aufgewühlten Koloraturen. Zur dramatischen Szene der Gefangennahme verflicht Bach den Bericht des Evangelisten mit wörtlicher Rede und erregten Turba-Chören, bis erlösend der erste Choral in warmen Vokalen verkündet, wovon alles, auch himmelschreiendes Leid und menschliches Versagen, aufgefangen wird: »O große Lieb...«.
Die Dramatik des Geschehens entfaltet sich innerhalb der szenischen Einheiten ebenso wie im kontrastreichen Gesamtverlauf. In der ersten Arie »Von den Stricken meiner Sünden« durchleben wir mit der Altstimme verstrickt in Oboen-Dissonanzen die Erkenntnis der eigenen Erlösungsbedürftigkeit, um kurz darauf den freudigen Schritten der gläubigen Seele zu folgen, die mit der Stimme des Soprans und der sanftmütigen Flöte den Weg zum Leben und Licht einschlägt: »Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten, mein Leben, mein Licht«.
Die Kreuzigung wird umrahmt von der rast- und orientierungslosen Bass-Arie »Eilt, ihr angefochtnen Seelen« mit instrumentalen und vokalen Einwürfen: »wohin?«. Ihr folgt wenig später die unergründliche, viele nachfolgende Komponisten inspirierende Alt-Arie mit ergreifendem Violoncello-Solo: »Es ist vollbracht«. Unwillkürlich brechen herrschaftliche Töne aus ihr hervor: »Der Held aus Juda siegt mit Macht«, bejubelt von Violinen, die Trompetenfanfaren imitieren. Das letzte »Es ist vollbracht« des Alts besiegelt der Evangelist: »Und neiget das Haupt und verschied.« Zurück bleiben die quälenden Fragen des Basses: »Mein teurer Heiland, lass dich fragen...«, begleitet – nicht beantwortet – von leisen Tönen der Zuversicht im Choral »Jesu, der du warest tot, lebest nun ohn Ende«. Die Kontemplation weicht ein letztes Mal dramatischem Aufbegehren: Der Vorhang im Tempel zerreißt in einer raumgreifenden Skala und die Erde erbebt im Bass- und Violin-Tremolo. Schließlich bleibt der Sopran mit einer letzten Arie zurück: »Zerfließe, mein Herze...: Dein Jesus ist tot«. Mischt sich in den herben Klageton der Oboe da caccia schon ein zarter Hoffnungsschimmer mit dem lichten, freudig konnotierten Klang der Soloflöte?
Zu einer abgeschlossenen Werkgestalt ist Johannes-Passion nie gelangt. Bach präsentierte sie in seiner ersten Karfreitagsvesper als Thomaskantor am 7. April 1724 in der Nikolaikirche und griff sie im Folgejahr grundlegend revidiert für die Thomaskirche wieder auf, die 1725 turnusmäßig an der Reihe war. Unter den 35 bis 40 beteiligten Musikern waren sechs Vokalsolisten und vermutlich zwölf Chorsänger. Für eine Aufführung 1732 überarbeitete Bach das Werk erneut und begann 1739 damit, eine Reinschrift der wandlungsfähigen Passion zu erstellen. Vermutlich hatte er eine weitere Darbietung in der Passionszeit 1739 geplant (was aus ungeklärten Gründen vom Leipziger Stadtrat unterbunden wurde) und wollte zugleich – wie zur Matthäus-Passion 1736 – eine verbindliche Werkgestalt fixieren. Dieses Projekt kam über die ersten zehn Sätze nicht hinaus. Eine vierte Aufführung realisierte Bach aber doch, kehrte dabei in einigen Details zur ersten Fassung zurück und bot zugleich eine besonders üppige Besetzung auf – einschließlich Kontrafagott (»Bassono großo«). Diese Version der Johannes-Passion erklang vermutlich am 5. April 1749 in St. Nikolai (möglicherweise auch erst oder erneut in Bachs Todesjahr 1750). Zu keiner der Fassungen ist das vollständige Aufführungsmaterial erhalten. Die Werkausgaben mischten verschiedene Bestandteile zu einer fünften Version zusammen, die heute meist musiziert wird, aber so zu Bachs Zeit nie erklungen ist.
Mit anderen Worten: Bach musste und konnte zeitlebens auf veränderte Aufführungsbedingungen so pragmatisch wie kreativ reagieren. Dazu zwingt uns nun die Pandemie. Möge die einzigartige Gemeinschaft, die Musik stiftet und einfordert, uns auch im digitalen Raum verbinden und Halt geben in dieser bewegten Passions-Zeit.
Ann-Katrin Zimmermann