Interview mit Gotthold Schwarz
Man könnte ihn fast Vize-Thomaskantor nennen: Gotthold Schwarz hat den Thomanerchor in den vergangenen 20 Jahren mehrfach vertretungsweise geleitet. Ein Heimspiel für den langjährigen Stimmbildner der Thomaner, der nicht nur als gefragter Oratoriensänger und Liedinterpret, sondern längst auch als Chorleiter und Dirigent Rang und Namen hat. Wir fragten den Bassbariton:
Herr Schwarz, sind Sie ein ehemaliger Thomaner?
Gotthold Schwarz: Bedingt. Ich bin als Kind aufgenommen worden, hatte aber so starkes Heimweh, dass meine Eltern mich nach einem Dreivierteljahr wieder herausgenommen haben.
Sie kamen laut »Wikipedia« erst als Zwölfjähriger zu den Thomanern?
Schwarz: Irgendwann sang der Chor in Zwickau. Da hat mein Vater, der Pauluskirchen-Kantor Hans Schwarz, mich Thomaskantor Erhard Mauersberger vorgestellt. Der wollte mich gleich haben. Meine Mutter war erst zögerlich, so hat es doch über ein Jahr gedauert, ehe ich in den Chor kam.
Welche Rolle spielt dieses Dreivierteljahr in Ihrem Leben?
Schwarz: Die Verbindung zu den Thomanern ist nie abgerissen. Als ich zum Studium nach Leipzig kam und als Solist die ersten Kantaten in der Thomaskirche singen durfte, gehörte ich wieder dazu. Eigentlich schon vorher, ich durfte oft Thomasorganist Hannes Kästner vertreten.
Vor dem Kirchenmusikstudium haben Sie aber erst einmal Buchhändler gelernt?
Schwarz: Ich wurde zur Oberschule nicht zugelassen, weil mein Vater Kirchenmusiker war. Irgendetwas mit Musik stand immer im Raum, aber meine Eltern meinten, dass ich vorher eine andere Blickrichtung bekommen sollte. Die Buchhändlerlehre war eine tolle Zeit mit sehr guten Lehrern an der Deutschen Buchhändler-Lehranstalt in Leipzig.
Der Lehre folgten gleich zwei Kirchenmusikstudiengänge - in Dresden und in Leipzig. Waren Sie eigentlich bei der Armee?
Schwarz: Ich hatte großes Glück. Im März 1971 kam ich an die Kirchenmusikschule, eine Woche später gab es die Einberufungsüberprüfung. Die Ausbildungsstätte und auch das Landeskirchenamt stellten einen Rückstellungsantrag, den der zuständige Offizier süffisant zur Kenntnis nahm. Dann gingen im Mai die Einberufungen wirklich an mir vorüber, ich konnte fünf Semester in Dresden studieren. Für einen Weg »ins Amt«, wie es damals hieß, erschien mir die Zeit zu früh, also habe ich mich in Leipzig beworben, um dort noch die A-Prüfung machen zu können. Nach dem Wechsel von Dresden nach Leipzig kam die Armee noch einmal. Aber ich war schon wieder im Studium. Wolfgang Schetelich empfahl mir als zweites Standbein ein Gesangsstudium, das ich auch noch begann. So machte ich 1978 das Kirchenmusik- und 1979 das Gesangsexamen. Da war ich dann zu alt für den Grundwehrdienst.
1979 wurden Sie gleich Stimmbildner im Thomanerchor. Sind Sie nach 33 Jahren mittlerweile der dienstälteste Knabenchor-Stimmbildner in Deutschland?
Schwarz: Das könnte sein. Manchmal kommt mir das gar nicht so lang vor, weil man durch den ständigen Generationswechsel immer wieder mit Jüngeren und Älteren gleichzeitig arbeitet. Dann stellt man plötzlich fest, dass man die Kinder früherer Schüler in der Stimmbildung hat.
Stehen Sie in einem regen Austausch mit anderen Stimmbildnern bei Knabenchören? Gibt es vielleicht sogar eine kontinuierliche wissenschaftliche Begleitung?
Schwarz: Mit den Kollegen, die beispielsweise in Dresden oder bei den Windsbachern tätig sind, tauscht man sich im Umfeld von Konzerten aus. Das ist vielleicht nicht wissenschaftlich, aber man zieht aus den Erfahrungen der anderen Rückschlüsse auf die eigene Arbeit.
Was umfasst die Stimmbildung im Thomanerchor?
Schwarz: Jeder Thomaner hat wöchentlich eine halbe Stunde, in der Regel allein. Manche erhalten auch zwei- oder dreimal in der Woche Stimmbildung, wenn es die Zeit erlaubt. Das ist zum Beispiel nötig, wenn Jungen neu einsteigen, die stimmlich gut sind, aber etwa die Matthäus-Passion noch nie gesungen haben. Dann vertieft man das schon mal in der Stimmbildung.
Sollte anstelle der Erarbeitung von Literatur nicht das Stimmtraining im Mittelpunkt des Unterrichts stehen?
Schwarz: Das sehe ich nicht so. Manche Schüler haben reine Stimmübungen nicht gern, und dann arbeiten wir eben an Literatur - auch an solcher, die nicht zum Repertoire des Chores gehört. Ich will ja auch den Blick auf andere Epochen öffnen: mal ein Schubert-Lied oder etwas aus der Zeit vor Bach. Da muss man sensibel sein und schauen, was die Jungen interessiert.
Beim Tölzer Knabenchor ist die Devise der Stimmbildung: Jeder Sänger ein Solist. Wie lautet die Devise beim Thomanerchor?
Schwarz: Dass jeder entsprechend seinen Begabungen und Fähigkeiten das Bestmögliche erreichen soll. Da gibt es verschiedene Aspekte: Bei dem einen hapert es an der Atemführung, beim nächsten sind es stimmliche Probleme, die repariert werden müssen. Natürlich ist auch jeder Thomaner ein Solist - auf unterschiedlichem Niveau und mit unterschiedlicher Nervenstärke. Aber im gleichen Moment wird er dahin geschult, dass er seine möglichst perfekt ausgebauten Fähigkeiten im Ensemble einbringt. Was wir in der Stimmbildung machen, ist, Natürlichkeit herzustellen. Wir suchen sozusagen den Weg zur größtmöglichen Natürlichkeit.
Was ist der natürliche Unterschied zwischen einer Knaben- und einer Mädchenstimme?
Schwarz: Das Timbre der Stimmen ist verschieden, aber im Hinblick auf die stimmbildnerischen Aufgaben gibt es keine Unterschiede. Doch ich habe keine Erfahrungen mit Mädchenchören. Es gibt klangliche Unterschiede zwischen Knaben- und Mädchenchören, wie ja viele Chöre überhaupt ihren spezifischen Klang haben. Ich konnte früher den Unterschied zwischen den Thomanern und den Kruzianern hören. Später weichte sich das auf, aber heute kann man wieder eine Charakteristik der Thomaner erkennen. Da hat in den letzten zehn Jahren ein klanglicher Sprung stattgefunden.
Können Sie die Spezifik des heutigen Thomanerklangs näher erläutern?
Schwarz: Klang hängt mit der Behandlung von Sprache und Rhetorik zusammen. Da legt Georg Christoph Biller viel Wert auf sprachliche Deutlichkeit. Der positive Effekt ist, dass man durch eine klare Ansprache die Charakteristik eines Vokals zum Tragen bringt. Dann klingt ein ü wie ein ü und ein a wie ein a und ist nicht verfremdet. Dies befördert auch die textliche und inhaltliche Aussage.
Welche Möglichkeit hat ein Stimmbildner, auf den Gesamtklang des Chores Einfluss zu nehmen?
Schwarz: Ein Stimmbildner kann Hilfestellungen für die einzelnen Sänger geben. Jeder Knabe hat in seiner Stimme eine eigene Charakteristik. Diese gilt es zu fördern. Ich forme in Übungen einen Klang, den der Knabe im Idealfall auch spürt. Das muss dann übertragen werden. Ich hatte gestern zum Beispiel einen Sopran, der »Singet dem Herrn« üben wollte, weil er diese Bach-Motette bisher nur einmal gesungen hatte. Da haben wir den durch Übung erreichten Klang des i übertragen. Insofern kann man natürlich als Stimmbildner den Klang des Chores befördern.
Welchen Stellenwert hat die Stimmbildung heute im Thomanerchor?
Schwarz: Die Stimmbildung ist in den letzten Jahren immens aufgewertet worden. Eine regelmäßige Zusammenarbeit zwischen dem Thomaskantor und den Stimmbildnern gab es einst nicht, heute treffen wir uns wöchentlich zu einer Besprechung, in der wir auch Problemfälle beleuchten. Und jeder von uns Stimmbildnern hört auch immer wieder den gesamten Chor und lässt das in die eigene Arbeit einfließen.
Wie lange lassen Sie Knaben in der Mutation singen?
Schwarz: Das ist verschieden. Wenn man merkt, dass die Stimme brüchig wird und sich der Junge unwohl fühlt bei jedem Ton, dann sollte man ihn nicht mehr im Chor singen lassen. Dennoch singen die Jungen bei mir ständig weiter - in der Stimmbildung. Wenn eine Stimme brüchig ist, lasse ich summen oder Atemtechniken üben. Einmal in der Woche mache ich mit allen Dispensierten den sogenannten Dispi-Chor. Die Jungen sollen das Gefühl für das Singen nicht verlieren. Sie lernen dort zu oktavieren und zu springen, wenn es ihnen zu hoch oder zu tief ist. Das ist ein gutes Training. Man muss bedenken, dass das Gehör auch die Stimme schult. So können sich die nötigen neuen klanglichen Vorstellungen gut entwickeln.
Angeblich setzt der Stimmwechsel immer zeitiger ein. Wie ist Ihre Erfahrung?
Schwarz: Er hat sich tatsächlich vorverlagert, aber nicht massiv. Es gibt nach wie vor Jungen, die bis zur zehnten Klasse Sopran singen. Experten sagen, dass der Prozess der Akzeleration mittlerweile zum Stillstand gekommen ist, was sich mit meinen Erfahrungen deckt.
Wie viele erwachsene Altisten gibt es im Thomanerchor?
Schwarz: »Erwachsen« heißt hier ja »nach der Mutation«. Und da ist es jetzt nur noch einer. Stefan Kahle, der lange Zeit Alt sang und auch Soli übernahm, hat den Thomanerchor im vergangenen Jahr nach dem Abitur verlassen.
Wäre eine Wiederbelebung der verlorengegangenen Tradition, dass generell Männer den Alt besetzen, nicht auch angesichts der Nachwuchsprobleme hilfreich?
Schwarz: Das hängt letztlich immer vom Angebot und auch von der Akzeptanz ab. Wenn ich meine eigene sängerische Entwicklung betrachte, war es für mich überhaupt kein Problem zu falsettieren. Aber an der Hochschule war das verpönt, was ich nicht verstehe, schließlich wird das Falsettsingen in verschiedenen Gesangsschulen als Balsam für die Stimme beschrieben, weil es die Ränder der Stimmlippen zum Schwingen bringt. Heute ist man da zum Glück sensibler geworden. Als Stimmbildner habe ich das schon lange befördern wollen. Da war man aber zunächst sehr skeptisch.
Wer ist »man«?
Schwarz: Das behalte ich für mich; es waren einige. Auch die Thomaner selbst haben es am Anfang kritisch gesehen, nach dem Stimmwechsel Alt zu singen, aber inzwischen ist es für sie völlig normal. Ich habe gerade wieder einen Schüler, den ich eigentlich erst im Tenor sah, von dem ich jetzt aber überzeugt bin, dass er ein guter Altus ist.
Was sind Sie in erster Linie: Stimmbildner, Sänger oder Chorleiter?
Schwarz: Mein Herz schlägt für die Kirchenmusik. Natürlich bin ich Sänger. Als Sänger muss ich jeden Tag trainieren. Und es ist wunderbar, was man beim Unterrichten selbst lernt. Aus den Rückkopplungen erfahre ich auch eigene Defizite. In den letzten Jahren habe ich häufiger dirigiert - ohne es zu forcieren. Aber es reizt mich sehr, die eigene Erfahrung mit der Musik, die ich auch singe, auf diese Weise zum Klingen zu bringen.
Wären Sie 1992 gern Thomaskantor geworden?
Schwarz: Man kann Lebenswege nicht beeinflussen. In den vergangenen Jahren war ich mehrfach und über längere Zeiträume interimistischer Thomaskantor. Dabei habe ich mit den Thomanern wunderbare musikalische und menschliche Erfahrungen machen und auch eigene Akzente in der Arbeit setzen dürfen. Dafür und für die inspirierende Zusammenarbeit mit dem Gewandhausorchester bin ich sehr dankbar. Aber zurück zum Jahr 1992: Als Hans-Joachim Rotzsch gegangen ist, bin ich gebeten worden, das Interim zu übernehmen. Auf meine Rückfrage, ob ich mich auch bewerben könnte, wurde mir entgegnet, dass da schon andere vorgesehen seien. Daraufhin habe ich abgelehnt, auch weil ich befürchtete, nach solch einer Zeit als Sänger weg vom Fenster zu sein. Als nach dem ersten Wahlgang Hermann Max absagte, hat man Wolfgang Unger versprochen, dass er in einen zweiten Wahlgang käme, wenn er das Interim weiterführe. Dann stand der zweite Wahlgang fest - ohne Wolfgang Unger, weshalb er das Amt sofort niederlegte. Ich wurde wieder gefragt - auch mit Blick auf eine bevorstehende Israelreise - und sagte zu. Das war eine schwierige Zeit, weil es die Thomaner in der Mehrzahl nicht gut fanden, den Thomaskantor zu verlieren. Und sie waren damals auch nicht offen für andere musikalische Ansätze.
Wann haben Sie begonnen, sich mit historischer Aufführungspraxis zu beschäftigen?
Schwarz: Schon in den späten 70er Jahren. Einmal, nachdem ich eine Kantate in der Thomaskirche gesungen hatte, kam eine Dame auf mich zu, stellte sich als Redakteurin des WDR vor und fragte: Wollen Sie nicht mal in Köln eine Aufnahme machen? Sie hat mich mehrmals eingeladen, was von staatlicher Seite immer wieder abgelehnt worden ist - bis man mich 1985 doch nach Köln fahren ließ. Dort habe ich mit Hermann Max Aufnahmen gemacht sowie Michael Schneider und Frieder Bernius kennengelernt. Von denen habe ich viel gelernt, sie haben mir eine andere Blickrichtung vermittelt, als ich sie bisher gewohnt war.
Als Stimmbildner waren Sie aber weiterhin Mitarbeiter eines Thomaskantors, der dieser Art des Musizierens gegenüber wenig aufgeschlossen war. Ein Widerspruch?
Schwarz: Obwohl ich Rotzschs Musizierhaltung als junger Sänger erfrischend und wohltuend fand, bin ich später eigene, an der barocken Aufführungspraxis orientierte Wege der Interpretation gegangen. Andererseits muss ich auch heute noch meine eigenen Vorstellungen an Dirigenten anpassen, die vielleicht andere Ideen haben. Wenn ich spüre, dass jemand eine klare Konzeption hat, kann ich mit ihr leben, auch wenn sie nicht die meine ist.
Sie nannten die westdeutschen Pioniere der Alten Musik Hermann Max, Michael Schneider und Frieder Bernius. Was bedeutete Max Pommer für Sie?
Schwarz: Er war eine entscheidende Person in meiner Ausbildung. Ich hatte Dirigieren bei Jochen Wehner, lernte bei ihm eine profunde Schlagtechnik, und dann Unterricht bei Max Pommer, der uns Studenten zunächst provozierte und alles, was wir kannten, in Frage stellte. Wir waren entsetzt: Leipzig und die Thomaskirche, das war doch das Größte. Ich durfte bei Pommer meine Diplomarbeit über die Rhetorik in Bachs Werken schreiben. Es war sein Verdienst, uns Augen und Ohren geöffnet zu haben für alles, was rings um Leipzig passierte.
Was wünschen Sie dem Thomanerchor zum Jubiläum?
Schwarz: Weiterhin das Bewusstsein, dass er kein Museum ist, sondern eine lebendige Einrichtung, die auch die Verantwortung hat, das weiterzuvermitteln, was mit den gesungenen Texten gemeint ist. Diese lebendige Aussage muss die tragende Kraft für alle kirchenmusikalische Arbeit bleiben.
Und was wünschen Sie sich selbst zum anstehenden 60. Geburtstag?
Schwarz: Dass ich die Freude an dem behalte, was mich umtreibt. Dass ich immer wieder bereit bin zu lernen und neue Anregungen wie auch Kritik aufzunehmen. Und dass ich viele Ideen und Vorhaben verwirklichen kann. Wenn es Zeit ist aufzuhören, will ich das selbst merken. Und sollte das nicht der Fall sein, wäre ich dankbar, wenn es mir jemand sagte.
Interview: Hagen Kunze, Claudius Böhm