Editorial
»Hat ein genialer Mann das Recht, auch ein Schuft zu sein?«, fragt Minna Wagner 1850 in einem Brief an eine Freundin. Nein, hat er selbstverständlich nicht. Genialität ist kein Freischein für Schweinsein. Aber uns interessierte, warum Richard Wagner so geworden ist, dass seine Ehefrau sich zu dieser Frage veranlasst sah. Deshalb gehen wir in diesem Heft unter anderem den frühkindlichen Prägungen nach, die der späterhin berühmte Komponist in seinem Elternhaus und in Leipzig erfuhr. Geben diese wirklich Anlass für den lokalpatriotisch stolz gemeinten Slogan: »Richard ist Leipziger«?
»Von Leipzig nach Bayreuth«: Unter dieser Überschrift steht eine Kooperation von Bayreuther Festspielen, Oper Leipzig und Gewandhausorchester. Zweck ist, im Wagner-Jubiläumsjahr 2013 die drei Früh-Stücke des Komponisten in Leipzig und in Bayreuth aufzuführen. Bemerkenswert, dass das Gewandhausorchester bei dieser Gelegenheit erstmals in seiner 270-jährigen Geschichte in Bayreuth gastieren wird. Beinah wäre es schon vor 100 Jahren zu dieser Premiere gekommen: Eine Einladung lag vor, doch die Reise kam aus unerfindlichen Gründen nicht zustande. Wir fragen in diesem Heft, was das Orchester 1913 vorgefunden hätte – und was es diesmal vorfinden wird.
»Er könne Wagners Oper ›Tristan‹ nicht spielen, die Musik mache ihn krank«, habe ihm der Solocellist gesagt. Er als GMD habe das aber nicht hinnehmen können, und so habe August Eichhorn das Gewandhausorchester 1943 für immer verlassen. Daran erinnerte sich der 93-jährige Paul Schmitz in einem Interview, das in der ersten Ausgabe unseres Blattes erschien – vor genau 20 Jahren. Was jedoch sind zwei Jahrzehnte Gewandhaus-Magazin gegen zwei Jahrhunderte Wagner? Wir lassen dem greisen Jubilar gern den Vortritt. Zumal das Interview mit Hans-Joachim Maaz hilft, den Komponisten weniger als Schuft denn als einen vom Muttermangel lebenslang Gezeichneten zu sehen, der Mitgefühl verdient. Gut passt dazu – wie übrigens auch zum bevorstehenden Weihnachtsfest – das von Tibor Hegedues meisterhaft komponierte Titelbild unseres Heftes mit dem Zitat aus dem Wesendonck-Lied »Der Engel«:
»In der Kindheit frühen Tagen / Hört’ ich oft von Engeln sagen, / Die des Himmels hehre Wonne / Tauschen mit der Erdensonne, // Daß, wo bang’ ein Herz in Sorgen / Schmachtet vor der Welt verborgen, / Daß, wo still es will verbluten, / Und vergehn in Tränenfluten, // Daß, wo brünstig sein Gebet / Einzig um Erlösung fleht, / Da der Engel niederschwebt, / Und es sanft gen Himmel hebt. // Ja, es stieg auch mir ein Engel nieder, / Und auf leuchtendem Gefieder / Führt er, ferne jedem Schmerz, / Meinen Geist nun himmelwärts!« – Ob Richard Wagner mittlerweile tatsächlich in den Himmel gekommen ist? Selbst wenn so manches dagegen sprechen könnte, es wäre ihm dennoch von Herzen zu wünschen.
Claudius Böhm