Interview mit Sabine Meyer

Sabine Meyer kommt ins Gewandhaus. Wir besuchten die Klarinettistin in Lübeck, wo sie mit ihrem Mann lebt, dem Klarinettisten Reiner Wehle. Und wir baten sie, auf einer kleinen Zeitreise mit uns die »Jahrhundertschritte der Klarinette« nachzuvollziehen. Auch wenn es zunächst nicht so scheint: Schon mit unserer ersten Frage waren wir mittendrin.

Frau Professor Meyer, was ist aus Ihrem Hund Baermann geworden?

Sabine Meyer: Ihn gibt es schon lange nicht mehr. Er ist noch 1999 mit uns hierher nach Lübeck umgezogen. Aber er hat ein biblisches Alter erreicht, ist 14 Jahre alt geworden. Und er hat uns einen Sohn hinterlassen, Oscar.

Benannt nach dem Klarinettisten Oskar Oehler, auf den das »Oehler-System« der deutschen Klarinette zurückgeht?
Meyer: Das bleibt offen. Baermann jedenfalls war ein besonderer Hund. Er war unglaublich intelligent, klug und einfühlsam. Man hat das Gefühl gehabt, er versteht einen wie ein Mensch. Und er mochte die Klarinette, ist nie abgehauen, wenn ich geübt habe.

Für Heinrich Baermann, nach dem Ihr Hund benannt war, hat Carl Maria von Weber seine berühmten Klarinettenkonzerte geschrieben. Da sind wir schon beim ersten Jahrhundertschritt. Um 1700 wurde die Klarinette erfunden, 1811 komponierte Weber seine Klarinettenkonzerte.
Meyer: Die im selben Jahr aufgeführt worden sind. Der arme Heinrich Baermann hatte nicht viel Zeit zum Üben.

Welchen Platz haben die Weberschen Konzerte in Ihrem Repertoire?
Meyer: Natürlich einen sehr großen. Gerade das erste, das f-Moll-Konzert, spiele ich sehr gern und auch viel öfter als das zweite, weil es vielfältiger ist und der Klarinette in seiner Art mehr entgegenkommt. Das zweite ist mehr ein auf Virtuosität angelegtes Bravourstück, mit dem man glänzen kann.

Sie besitzen eine Sammlung historischer Klarinetten. Reicht die bis in die Weber-Baermann-Zeit zurück?
Meyer: »Sammlung« ist etwas übertrieben. Wir haben ein paar Instrumente vom Flohmarkt, die keinen großen Wert haben. Die einzige wirklich interessante Klarinette haben wir vor drei Jahren geschenkt bekommen. Da habe ich mit dem Staatsorchester Braunschweig das vierte Klarinettenkonzert von Louis Spohr gespielt – sowohl in Braunschweig als auch auf ein paar Abstechern, unter anderem in Seesen. Zwei Tage nach dem Seesener Konzert kam hier ein Brief an von einer Frau Dr. Hermstedt. Bei dem Namen klingelte es natürlich sofort bei uns. Wir machten den Brief auf, und tatsächlich: Die Dame stellte sich als eine Nachfahrin von Simon Hermstedt vor, dem Klarinettisten, für den Louis Spohr seine vier Klarinettenkonzerte komponiert hat. Das Konzert hätte sie so gerührt, dass sie mir ein Instrument schenken möchte, auf dem ihr Vorfahre gespielt hat. Und zwar handelt es sich dabei um die A-Klarinette, auf der Hermstedt 1829 das vierte Spohr-Konzert uraufgeführt hat. Leider ist sie kaputt, aber wir wollen sie restaurieren lassen – allein schon, um einmal zu hören, wie es damals geklungen hat. Und dann wollen wir sie nach Berlin ins Musikinstrumentenmuseum geben.

Sie haben die Weberschen Konzerte um 1984/85 mit der Sächsischen Staatskapelle und Herbert Blomstedt in Dresden eingespielt. Die Semperoper wurde im Februar 1985 wieder eingeweiht. Wo fanden die Aufnahmen statt?
Meyer: Ich weiß es nicht mehr, auf alle Fälle nicht in der Oper. Ich erinnere mich aber gut, dass es ein sehr angenehmes Aufnehmen war. Dort hat man noch nicht diesen enormen Zeitdruck gehabt, der heute bei Einspielungen herrscht. Man hatte Zeit und Ruhe, die Sachen zu proben, zu spielen und noch einmal zu spielen. Es war auch nicht schlimm, wenn man etwas nochmals aufnehmen musste. Das tat mir sehr gut. Für mich war das alles neu, und ich hatte die Weber-Konzerte damals noch nicht so oft gespielt.

War es nicht sogar Ihre erste Einspielung gemeinsam mit einem großen Orchester?
Meyer: Ja, und das war sehr aufregend. Aber Herbert Blomstedt ist einfach ein wunderbarer Mensch, der sehr viel Ruhe ausstrahlt und einem Sicherheit gibt. Er ist für mich einer der besten Dirigenten, mit denen ich je gespielt habe. Es gab von da an eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit ihm, und wir haben in etlichen Konzerten gemeinsam musiziert.

Umso mehr erstaunt, dass es kein gemeinsames Konzert in Leipzig gegeben hat, als Blomstedt dort Gewandhauskapellmeister war.
Meyer: Jetzt, wo Sie es sagen, fällt es mir auch auf. Die Verträge machen ja die Konzertagenturen, damit habe ich nichts zu tun. Welche Mechanismen da im Hintergrund laufen, weiß man oft nicht. Mit Sicherheit aber lag das weder an Blomstedt noch an mir.

Herbert Blomstedt hat in seiner Kindheit wie Sie Geigespielen gelernt. Wobei Sie sich nie richtig wohlgefühlt haben mit dem Instrument?
Meyer: Ich habe ganz ordentlich Geige gespielt und brav zehn Jahre lang meinen Unterricht genommen. Aber dass ich nicht die Superbegabung auf der Geige bin, habe ich schon gemerkt. Als ich dann nach Jahren des Klavier- und Geigespielens mit der Klarinette begonnen habe, ging alles viel leichter und schneller. Die Klarinette war von Anfang an das Instrument, mit dem ich mich viel mehr verbunden fühlte und mit dem ich auch viel schneller Erfolg hatte.

Klarinette und Bratsche wird eine enge Klangverwandtschaft nachgesagt. Vielleicht hätten Sie mit Bratsche anfangen sollen?
Meyer: Nein, das wäre es auch nicht gewesen. Streicher gehörten quasi zur anderen Seite; der Bruder meines Vaters und dessen Familie, das sind alles Streicher. Und die Streichinstrumente sind alle so wahnsinnig arbeitsintensiv, wenn man es einigermaßen ordentlich machen will. Die Klarinette ist dagegen relativ leicht erlernbar, allerdings nur bis zu einem gewissen Stadium. Wenn man dann besser, klanglich differenzierter spielen will, wird es schwierig. Ich will nicht sagen, dass es bei der Geige anders herum ist – die Geige ist von Anfang an schwer –, aber ein Weber-Klarinettenkonzert zu spielen, das kann man jedem nicht ganz Unbegabten in drei, vier Jahren beibringen. Wenn man jedoch nicht beim einfachen Klappendrücken und bloßen Produzieren von Tönen stehenbleiben will, dann wird es wirklich schwer.

Noch einmal zur Verwandtschaft von Klarinette und Bratsche: Brahms hat in seinen Kammermusiken für Klarinette die alternative Besetzung mit Bratsche erlaubt ...
Meyer: Wobei er diese Stücke nicht von vornherein für beide Instrumente konzipiert hat. Dort haben eher verlags- und verkaufstechnische Gründe eine Rolle gespielt, sie auch für Bratsche einzurichten.

Wie sehen Sie die Klangverwandtschaft der beiden Instrumente?

Meyer: Von der Stimmlage her gibt es sie. Vielleicht auch vom Timbre, wenn man etwa an Max Bruchs Doppelkonzert denkt.

Bruchs Konzert für Viola, Klarinette und Orchester op. 88 entstand genau 100 Jahre nach Webers Klarinettenkonzerten. Das war jedoch noch nicht der nächste Jahrhundertschritt der Klarinette, sondern der erfolgte erst zwei Jahre später: Alban Berg schrieb 1913 seine Vier Stücke für Klarinette und Klavier op. 5 – die erste atonale Komposition für Klarinette. Was bedeuten Ihnen diese vier kurzen Stücke?
Meyer: Für mich sind sie das Größte, was es in der Kammermusik für Klarinette gibt. Es ist eine ungemein farbige und zugleich hochemotionale Musik. Obwohl Berg über fast jeden Ton etwas geschrieben hat – verkürzen, mit Punkt, mit Akzent, mit Portato und so weiter –, hat man trotzdem Freiheiten im Ausdruck. Das ist einfach phänomenal!

Im gleichen Jahr, genau vor 100 Jahren, ist Igor Strawinskys »Le sacre du printemps« uraufgeführt worden. Auch da spielt die Klarinette eine besondere Rolle. Wichtiger für die Klarinettisten dürften allerdings Strawinskys drei Solostücke für Klarinette sein, oder?
Meyer: Sowohl der »Sacre« als auch die drei Solostücke sind wegweisende Werke gewesen. Für beide gab es keine Vorbilder; insbesondere gilt das für die drei Solostücke. Es gab vorher keine Konzertmusik für unbegleitete Klarinette, sondern höchstens Etüden. Insofern war Strawinsky bahnbrechend. Er hat die Klarinetten ja auch geliebt. Mit unserem Trio di Clarone haben wir häufig die »Katzenwiegenlieder« gespielt: eine unglaublich schöne Musik für Es-, A- und Bassklarinette und eine Frauenstimme. Alban Berg hat an Igor Strawinsky geschrieben, er liebe diese Lieder und wie die Klarinetten klingen. Das ergibt eine interessante Querverbindung, nicht wahr?

Wenn ein Veranstalter Sie vor die Wahl stellte, entweder Strawinskys drei Solostücke oder Bergs vier Stücke zu spielen, was würden Sie wählen?
Meyer: Ich würde Alban Berg wählen – und als Zugabe Igor Strawinsky spielen.

Nächster Jahrhundertschritt, wobei es sich noch erweisen muss, ob er als solcher in die Geschichte eingehen wird: Oscar Bianchis »Oneness« für Klarinette, Bassetthorn und Orchester, das Sie gemeinsam mit Ihrem Bruder Wolfgang Meyer und dem Gewandhausorchester in Kürze zur Uraufführung bringen werden. Was erwartet uns bei dem Werk?
Meyer: Das würde ich auch gern wissen. Noten haben wir, aber wie es klingt, das kann ich noch nicht so richtig sagen. Mein Bruder und ich haben einmal den Anfang probiert, da war der letzte Teil noch nicht da, der ist erst vor zwei Tagen per E-Mail hier angekommen. Davor war Herr Bianchi selbst bei uns, und wir haben ein paar Sachen durchgesprochen, weil manches fast unspielbar war. Vielleicht hat er sich von jemandem beraten lassen, der sich bei den Klarinetten mit Boehm-System auskennt. Wir aber spielen Klarinetten mit deutschem System. Da lassen sich bestimmte Sachen, die er haben wollte, nicht realisieren. Das hat er jedoch gut nachvollziehen können und war überhaupt nicht beleidigt.

Die Musikgeschichte kennt berühmte Beispiele von Komponisten, die sich bei neuen Solokonzerten von ihren Interpreten beraten ließen. Wie ist das heute?
Meyer: Das ist wahrscheinlich von Person zu Person verschieden. Es gibt Komponisten, die sich genau kundig machen, was geht und was nicht. Und es gibt Komponisten wie beispielsweise Peter Eötvös – er hat ein Doppelkonzert für meinen Bruder und mich geschrieben –, die eine genaue Vorstellung davon haben, wie es klingen soll. Welchen Weg wir als Interpreten für die Umsetzung finden, ist ihnen dann fast egal.

Welcher Komponistentypus ist Ihnen lieber?
Meyer: Einer, der zwar genau weiß, was er will, mir aber die Freiheit lässt, wie ich es umsetze. Und der sich so gut auskennt, dass er gar nicht erst solche verrückten Sachen schreibt, die grifftechnisch nicht realisierbar sind.

Wie viele Werke haben Sie schon uraufgeführt?
Meyer: Etwa 40, weiß ich dank meinem Mann, also im Schnitt ein Werk pro Jahr.

Eine vielleicht schmerzliche Nachfrage: Wie viele von diesen sind ins Repertoire eingegangen und werden heute noch gespielt?
Meyer: Einige. Zum Beispiel das Solostück von Aribert Reimann, das er für mich geschrieben hat, oder die Konzerte von Manfred Trojahn und Toshio Hosokawa. Auch das Bläseroktett von Edison Denisov wird immer wieder aufgeführt.

Ein Musiker investiert viel Zeit und Kraft in eine solche Uraufführung. Er muss sich das Stück erarbeiten, lebt wochenlang mit ihm ...
Meyer: Dann wird es gespielt – und ist vorbei.

Wenn sich danach keine Aufführungsgeschichte anschließt, ist das nicht doppelt traurig?
Meyer: Schon. Das liegt aber auch mit daran, dass die Stücke teilweise abartig schwer oder nur für Spezialisten geeignet sind. Oder dass sie für ungewöhnliche Besetzungen geschrieben sind, die man kein zweites Mal zusammenbekommt. Dann wird das in Donaueschingen und in Witten aufgeführt, und das war es.

Sie haben schon mehrfach im Leipziger Gewandhaus gastiert, aber Sie werden jetzt erst zum zweiten Mal mit dem Gewandhausorchester musizieren.
Meyer: Das erste Mal hat Hartmut Haenchen dirigiert, und gemeinsam mit dem Gewandhaus-Quartett haben wir Karl Amadeus Hartmanns Kammerkonzert für Klarinette, Streichquartett und Orchester gespielt.

Sie waren damals nahezu eine Woche hier, haben noch in einer Kammermusik mitgewirkt und mit dem Gewandhaus-Quartett Wolfgang Amadeus Mozarts Klarinettenquintett gespielt. Hatten Sie auch ein wenig Zeit für die Stadt?
Meyer: Ich war in Kirchen und im Bach-Museum. Daran erinnere ich mich. Wenn man abends spielen muss, läuft man nicht den ganzen Tag durch die Gegend, sondern sieht zu, dass man fit und entspannt zum Konzert kommt. Aber ich versuche immer, einen Eindruck von der Stadt zu gewinnen. Meistens gehe ich in irgendeine Kirche und laufe ein Stück weit durch die Straßen und Gassen.

In Ihrer kürzlich erschienenen Biographie zitiert die Autorin Margarete Zander Sie mit dem Satz: »Wenn ich kein gutes neues Mundstück finde, höre ich auf.« Ist inzwischen ein neues gefunden?
Meyer: Nein, ich suche noch. Aber einfach ist es nicht. Man ist ja verwachsen mit so einem Mundstück. Wir Klarinettisten spielen bis zu zehn, elf Jahre auf einem Mundstück – wohlgemerkt auf ein und demselben, wir haben nicht noch fünf andere daneben –, und da verwächst man natürlich mit diesem Teil. Wenn dann das Material ermüdet und ein neues Mundstück gefunden werden muss, ist es jedes Mal ein Kampf. Die Tendenz geht heute zu offeneren Mundstücken, weil es leichter ist, Rohrblätter dafür zu finden. Aber für unsere klanglichen Vorstellungen geht damit vieles verloren. Wir bevorzugen engere Mundstücke mit dickeren Blättern, bei denen der Faktor Holz eine viel größere Rolle spielt. Das erzeugt mehr Obertöne, mehr Kern und mehr Glanz.

Mit welchem Mundstück werden Sie nach Leipzig kommen?
Meyer: Sicher mit dem alten. Das wird schon noch durchhalten bis dahin. Und ein Ersatzmundstück habe ich zur Not.

Interview: Claudius Böhm


Konzerttipps

12./13. September, 20 Uhr, Gewandhaus: Sabine und Wolfgang Meyer spielen Felix Mendelssohn Bartholdys zwei Konzertstücke für Klarinette, Bassetthorn und Orchester sowie Oscar Bianchis »Oneness« für dieselbe Besetzung. Pablo Heras-Casado dirigiert die beiden Konzerte im Rahmen der Mendelssohn-Festtage.

Buchtipp

Margarete Zander: Sabine Meyer, Weltstar mit Herz – Edel-Verlag, 2013 – ISBN 978-3-8419-0194-1.