Zwei Konzerte in Warschau
Vor 75 Jahren, im Dezember 1938, fuhr der Gewandhaus-Chor für zwei Konzerte nach Warschau. Der Erlebnisbericht, den eine Mitreisende verfasste, enthält so manche befremdliche Passage.
Am Morgen des 15. Dezember 1938 bricht der Gewandhaus-Chor zu seiner zweiten Auslandsreise auf. Die erste hat ihn im Oktober 1936 in die dänische Hauptstadt Kopenhagen geführt. Diesmal ist die polnische Hauptstadt das Ziel. Gemeinsam mit den Warschauer Philharmonikern sollen unter Leitung von Gewandhauskapellmeister Hermann Abendroth das Requiem von Giuseppe Verdi und die neunte Sinfonie Ludwig van Beethovens aufgeführt werden. Finanziert wird die Tournee von der Stadt Leipzig, dem Chor selbst und, wenngleich mit lediglich 1500 Reichsmark, vom Propagandaministerium.
Kaum von der Vier-Tage-Tournee zurückgekehrt – am 18. Dezember reist der Chor gegen 22 Uhr aus Warschau ab und trifft am Vormittag des 19. Dezember wieder in Leipzig ein –, setzt sich eine der Mitreisenden an die Schreibmaschine und tippt engzeilig sechs Seiten randvoll mit ihren Reiseerlebnissen. Gertrud Merbach heißt die redselige Berichterstatterin, die allerdings nicht als aktive Chorsängerin an der Reise teilnahm, sondern als »Sekretärin« des Reiseleiters. Dieser heißt Friedrich Merbach und ist der Ehemann der 47-jährigen Hausfrau Gertrud. Im Hauptberuf Lehrer für Latein, Griechisch und Deutsch, ist der 53-Jährige im Ehrenamt Vorsitzender des Chorvorstands und damit in Zeiten, in denen es weder einen Manager noch ein Büro für den Chor gibt, auch dessen »Mädchen für alles«.
Schon am nächsten Tag, dem 20. Dezember, erscheint in der Neuen Leipziger Zeitungein Bericht, der offenkundig auf Gertrud Merbachs Schilderungen basiert. Tenor des Artikels: »Es war ein voller Erfolg.« Und weiter: »Dabei hatte das jüdische Publikum, das sonst über die Hälfte der Besucher ausmacht, die Parole völligen Fernbleibens ausgegeben, so daß der Erfolg um so höher zu werten ist.«
Dass die jüdischen Konzertbesucher das Gastspiel boykottierten, dürfte die Leipziger Sängerinnen und Sänger allerdings nicht überrascht haben. Ihnen wird bewusst gewesen sein, dass in ihrem Nachbarland registriert wurde, wie das nationalsozialistisch regierte Deutschland gegen die Juden im eigenen Land vorging. Nach den Pogromen vom 9./10. November gegen Juden, ihre Synagogen, Geschäfte, Häuser und Einrichtungen, nach der am 12. November befohlenen Ausgrenzung der Juden aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens (was auch hieß: Juden durften keine Kulturveranstaltungen mehr besuchen) – nach all dem als deutscher Chor nach Warschau zu kommen und zu singen: »Alle Menschen werden Brüder«, da plagten das eine oder andere Chormitglied vielleicht doch Skrupel. Die bereits zitierte Zeitung sieht dagegen in ihrem Rückblick das Ganze eher sportiv und schreibt, auch angesichts der trotz Nichtangriffspakt gereizten Stimmung zwischen Deutschland und Polen: »Wohl manche, die von der beabsichtigten Reise hörten, fragten zunächst halb ungläubig: Wie, jetzt wollen Sie zwei Konzerte in Warschau geben? Aber gerade das Unsichere des Planes reizte zur Durchführung.«
Und das Ehepaar Merbach reizte es auch noch, in Warschau ausgerechnet das Judenviertel aufzusuchen und sich am jüdischen Basar zu delektieren? Wie das einzuordnen ist, welche Haltung der Merbachs sich darin ausdrückt – Studienrat Fritz Merbach wird am 28. November 1939, knapp drei Monate nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, die Aufnahme in die NSDAP beantragen –, bleibt auch sieben Jahrzehnte später unklar. 2009 erhält das Gewandhausarchiv Dokumente aus dem Nachlass Friedrich Merbachs. Darunter befindet sich ein Durchschlag des Erlebnisberichts, den seine Frau Gertrud 1938 verfasst hat. Wir veröffentlichen und kommentieren im Folgenden Auszüge daraus.
Die Hinreise
»Donnerstag früh, am 15. Dezember, versammelte sich der Chor am Bahnsteig, wo es allerdings gleich die erste ... sehr bittere Enttäuschung gab, daß die freundliche Reichsbahn uns statt der bestellten drei Wagen nur deren zwei zur Verfügung gestellt hatte, was praktisch darauf hinaus lief, daß etwa 30 Personen sich im Zuge verteilen mußten und wir ... keine Verbindung mit ihnen hatten und außerdem unsere Wagen weder in Cottbus noch in Neu-Bentschen umgesetzt wurden, sondern wir jedesmal mit Sack und Pack umsteigen durften. Und das wollte etwas heißen bei 150 Personen, von denen ein Teil von Reisen herzlich wenig Ahnung hatte ... Dank Fritz’ glänzender Vorbereitungen klappte mit Paß und Zoll alles tadellos, auch das Mittagessen im polnischen Speisewagen jenseits der Grenze, das in drei Abteilungen zwischen 3 und 5 verzehrt wurde und uns durch seine Güte höchst angenehm überraschte. Pute hatten wir für 1.75 nun doch nicht erwartet!!!«
In Neu Bentschen (heute polnisch Zbąszynek) befand sich ein Lager für tausende Juden polnischer Staatsangehörigkeit. Sie waren bei der sogenannten Polenaktion der Nationalsozialisten Ende Oktober 1938 aus Deutschland abgeschoben, von den polnischen Grenzbeamten jedoch zurückgewiesen worden und mussten nun unter unwürdigen Bedingungen im Grenzland ausharren. Im Bericht von Gertrud Merbach wird das Lager nicht erwähnt.
Der erste Abend
»Ankunft in Warschau 8 Uhr abends! ... Ein eisiger Wind empfing uns draußen, aber da standen die von der Filharmonia geschickten drei großen Busse bereit und in wenig[en] Minuten fuhren wir vor dem Touristenheim vor. Darauf waren wohl alle mit etwas Bangen gespannt, wußten wir doch, daß es – noch im Bau sei! Und wirklich, ein ganz modernes Riesenhaus, von dem die sehr große Hälfte im Rohbau stand ... Umso freundlicher aber empfing uns der fertige Teil, warm, sauber, ganz moderne Sachlichkeit. Dieser Teil [ist] eigentlich schon ein großes Hotel. Der arme Fritz allerdings hatte gleich wieder einen schweren Sturm zu bestehen; bei der polnischen Gemütlichkeit war Abendroths Prophezeiung eingetroffen, daß Fritz vor der Abreise nicht mehr die Zahl der Einzelzimmer zu 2, 3, 4 und 6 Betten bekommen würde. Nun mußte erst dort verteilt werden und in unbegreiflicher Disziplinlosigkeit brachten es doch einzelne fertig, Zimmer nicht voll zu belegen, abzuschließen und zu verschwinden, sodaß auf einmal etwa 15 Personen ohne Unterkommen dastanden. Natürlich die älteren Damen und überhaupt die anständigeren, die sich nicht drängeln ... Aber schließlich waren alle untergekommen und nun gab es noch für uns ein verspätetes Abendessen. Ich will gleich hier sagen, daß sich das Mittag- und Abendessen sehr ähnlich war, wir nehmen an, es war das, was Polen sich unter deutscher Kost vorstellt. Sauerkraut war jedenfalls beinahe immer vertreten. Kartoffelmus ebenfalls, dazu Makkaroni, Hirse und immer Gemüse und Schweinefleisch. Es war hervorragend zubereitet, sehr mild und bei der Kälte wurde es von allen gern verzehrt. Als nun Fritz und ich nur einen kleinen Gang zur Nervenberuhigung machen wollten, waren auf einmal Abendroths da mit dem guten Chonacki, der ihnen von der Palastrevolution berichtet hatte und die nun Nachschau halten wollten. Frau Abendroth verordnete Fritz unbedingt ein Glas Bier und so gingen wir Fünf noch in das Cafe von Abendroths Hotel, wo wir ein sehr gemütliches Stündchen zusammen hatten. Auf diesen Chonacki hatten wir hier vorher manchen Zorn gehabt, wenn seine Antworten so lange warten ließen, aber als wir ihn dann kennen lernten, diesen rührend guten Mann, der eine so warme, treue Freundschaft für Abendroth hat, da war aller Groll vergessen und wir waren auch gleich gute Freunde. Ich werde es nicht vergessen, wie er an diesem Abende bei Gelegenheit im Gespräch sagte: ›als Polen neu geboren wurde!‹ Das Glück, was sich darin ausdrückte!«
1918 hatte Polen seine staatliche Souveränität zurückerlangt. – Mit dem »guten Chonacki« dürfte Roman Chojnacki gemeint sein, der Direktor der Warschauer Philharmonie seit 1918. Interneteinträgen zufolge starb er am 22. Dezember 1938 in Warschau – vier Tage nach dem Gastspiel des Gewandhaus-Chores. Gertrud Merbach erwähnt in ihrem Bericht für den Sonntagnachmittag nach dem Konzert: »Der Sohn von Chojnacki – der Vater lag krank – brachte uns und Abendroths eine Einladung zu ihnen ...«
Elisabeth Abendroth
»Wanzen!! ... In unserem Heim gab es so etwas nicht, aber einer hatte sie doch in seinem Zimmer, am ersten Abend als Ankunftsüberraschung saß sie in seinem Zimmer an der Wand! – Und dieser eine war Abendroth im feinen Hotel Polonia!!! Das ganze Hotel ist in Aufruhr geraten, sein Zimmer ist gleich abgeschlossen worden und seiner Frau hat er es erst gestanden, als sie sich im Polonia nicht wieder ins Bett legen mußte, wo sie aber ohne Sorgen schön geschlafen hatte. (Er war ja schon eher dort als wir.) Im übrigen ist Frau Abendroth gegen so etwas nicht sehr empfindlich, wer wie sie in jedemLande von Europa, u. a. einmal eine lange Balkanfahrt, gereist ist, den kann nichts mehr überraschen. Sie ist ein feiner Mensch, ganz schlicht und ganz natürlich, wir haben uns fein verstanden. Mit Frau Ramin hätte ich solche Fahrt nicht machen mögen.«
Mit Frau Ramin ist Charlotte Ramin gemeint, die Frau des Leipziger Thomasorganisten Günther Ramin. Er leitete von 1933 bis 1938 den Gewandhaus-Chor, musste allerdings 1935 die Leitung der Chorkonzerte im Gewandhaus an den neuen Gewandhauskapellmeister Hermann Abendroth abtreten. 1938 ließ sich Ramin von seinen Verpflichtungen beim Gewandhaus-Chor entbinden.
Die erste Probe
»Nach der ersten Nacht fand sich alles vergnügt unten an den langen Tischen zum Frühstück zusammen, man bekam zwei Brötchen, Wurst und Schinken, Tee oder Kaffee, und Butter wurde nach Belieben nachgeliefert ... Dann machten wir uns auf den Weg zur Filharmonia zur Probe. Das ist ein mächtiges Gebäude, schön ist es nicht, der Saal wirkt gut, geräumiger, heller und größer als hier im Gewandhaus. In dem Gebäude ist unten ein gemütlicher Aufenthaltsraum, wo wir auch verpflegt wurden ... Es war gleicher Art wie im Heim, nur gemütlicher im Raum und hinterher gab es ein Täßchen komischen Kaffee. Der wird dort noir getrunken, aber schließlich bekamen wir auch noch Weisheit geliefert. Das muß man überhaupt sagen, das Personal war überall von geradezu rührender Fürsorge und Freundlichkeit ... In der Probe traf ich mit Frau Abendroth zusammen, um mit ihr zu bummeln. Erst hörten wir etwas zu. Die Solisten waren sehr nett, vor allem die Altistin bemühte sich rührend, die Sache auch geistig etwas zu durchdringen. Der Sopran hatte Abendroth schon viel Schweiß gekostet, er hatte alles genau am Flügel mit ihr durchgenommen, aber richtig einsetzen konnte sie eben nicht. Dabei ein herrliches Stimmmaterial! Warum liefert der liebe Gott dazu nicht auch die nötige Musikalität! Wir hielten sie eigentlich für unbegabt. Aber sie war eine Ärztin, sehr tüchtig und sprach auch fein Deutsch. Wenn man mit ihr sprach, konnte man sie nur gerne haben. Im Orchester war ein Dolmetscher.«
Friedrich Merbach berichtete in der »Leipziger Tageszeitung« vom 21. Dezember 1938 von der Zusammenarbeit mit den Warschauer Philharmonikern: »Bei Interpretationswünschen Professor Abendroths bewährte sich ausgezeichnet ein Kontrabassist, der fließend deutsch sprach und alles sofort übersetzte.« – Die Solisten der beiden Konzerte waren Stanisława Zawadzka (Sopran), Janina Hupertowa (Alt), Adam Dobosz (Tenor) und Aleksander Michałowski (Bass).
Durch Warschau (I)
»Frau Abendroth und ich zogen los trotz der eisigen Kälte und sahen uns Warschau etwas an. Gleichzeitig mit uns war ja Reichsminister Frank mit 14 Juristen dort. Am Grabmal des unbekannten Soldaten bewunderten wir den riesigen, von ihm niedergelegten Kranz mit großer Hakenkreuzschleife. Nach der Probe und dem gemütlichen Mittagessen zogen Fritz und ich los ... Ich führte ihn nach der Richtung, wo ich früh war, denn dort kam man zu dem Judenviertel. Wir suchten den richtigen Weihnachtsmarkt in der Hoffnung, etwas Volkstümliches zu finden. Es standen übrigens an allen Plätzen große brennende Christbäume, nur mit bunten Glaskugeln geschmückt, aus Buden mit bunten Kugeln und Christbäumen bestand übrigens auch der ganze Weihnachtsmarkt, auf dem ich mir, arme Leute, wie wir dort waren, Zweige von der Erde auflas für die Heimfahrt ... Ja, also Fritz und ich erwischten wohl vom ganzen Chor das Allerinteressanteste, den jüdischen Basar! Es war toll, wirklich östlich! Ramsch, aber auch alles, 4–5 Meter hoch aufgebaut, dazwischen diese Typen! Dreckige Juden, Kaftanjuden, aber auch feine Gestalten in den Felljacken, kirgisisch bestickt außen auf dem Leder ... Und der Krach und der Lärm dort! In das eigentliche Ghetto – ein Drittel Juden hat Warschau – sind wir nicht gegangen, es war vielleicht doch besser.«
Hans Michael Frank, Hitlers Rechtsanwalt und höchster Jurist im »Dritten Reich«, war Reichsminister ohne Geschäftsbereich. – Mit dem »eigentlichen Ghetto« meint Gertrud Merbach offenbar das jüdische Wohnviertel in der Warschauer Altstadt. Das berüchtigte Warschauer Ghetto, das der Internierung, Ausbeutung und Vernichtung der Juden diente, wurde von den Nationalsozialisten erst im Herbst 1940 errichtet.
Das erste Konzert
»Es war übrigens gerade eine Wahl am Sonntag, stellenweise watete man in den Zetteln! Autos mit Fackeln und viel Geschrei verteilten abends in den Straßen Wahlzettel. Vergangene Zeiten bei uns, es ist doch gut so! – Freitag abend fand nun das erste Konzert statt in der Filharmonia, das Deutsche Requiem von Verdi, das Abendroth so wundervoll herausbringt. Die Judenplätze blieben leer, raffinierter Boykott, die Plätze zwar gekauft, damit sie kein anderer haben kann, aber man geht nicht. Es war aber trotzdem ein sehr guter Besuch und vor allem eine große Begeisterung. --- Ach so, ich vergaß zu erwähnen, daß am Vormittag ... der Botschafter zur Probe kam, um zuzuhören, da er ja am Abend das große Essen für den Minister hatte. Für diesen hochmusikalischen Mann war dies Zusammentreffen bitter und so wollte er wenigstens etwas erhaschen ... Er lud für den Empfang, der nach dem Essen in der Botschaft stattfand, Abendroths, Fritz und mich ... So fuhren wir alle, nachdem sich Abendroth umgezogen und erholt hatte, nach der Deutschen Botschaft ... Bumke, der ja mit unter den 14 Juristen war, freute sich natürlich über die Leipziger Gäste, ein famoser Mann!«
Am 18. Dezember 1938 fand in Warschau die Stadtratswahl statt. – Die fehlerhafte (dabei die Zeit so bezeichnende) Angabe »Deutsches [!] Requiem von Verdi« steht tatsächlich in Gertrud Merbachs Typoskript. – Deutscher Botschafter in Polen war seit 1931 Hans-Adolf von Moltke (zunächst als Gesandter, ab 1934 als Botschafter). – Erwin Bumke war seit 1929 Präsident des Reichsgerichts, das seinen Sitz in Leipzig hatte.
Durch Warschau (II)
»Am anderen Vormittag nun waren Fritz und ich frei für Warschau, wir gingen durch die Straßen an die wichtigsten Punkte, kamen auch an das Ehrenmal, wo ich am Tage vorher mit Frau Abendroth den Kranz des Ministers bewundert hatte. Diesmal stand der wachhabende Soldat nicht wie am Freitag wie aus Stein, sondern benahm sich so, daß wir uns unfreundlich beobachtet fühlten, er sagte auch etwas zu uns, was wir natürlich nicht verstanden, aber eine Liebenswürdigkeit war es bestimmt nicht. Und siehe da, die Hakenkreuzschleife am deutschen Kranz war entfernt!!! Sonst haben wir nie Unfreundlichkeiten gefühlt, im Gegenteil. Aber einigen Damen, mehreren Gruppen, ist es doch passiert, daß ihnen, als sie abends deutschsprechend heimgingen, zugerufen wurde: verfluchte Deutsche! Irgendeinem hat ein Jude gesagt, wann wohl Hitler sterben werde. Weihnachten wohl noch nicht, Ostern wohl auch nicht, aber wenn er sterbe, dann werde das ein großer Feiertag für die Juden sein. Die Bestrebungen gegen die Juden sind doch immer stärker geworden.«
Das Wort »doch« im letzten Satz ist handschriftlich korrigiert in »dort«.
Hermann Abendroth
»Diese Reise jetzt war den Deutschen dort das schönste Adventsgeschenk, was sie bekommen konnten. Mit welcher Dankbarkeit sprachen sie das immer wieder aus! Abendroth, der zum 18. Male in Warschau dirigierte, steht dort in höchster Wertschätzung und diese Reise hat auch uns etwas ganz Wertvolles geschenkt: der Chor ist mit ihm fest zusammengeschweißt, was nach dem Übergang von Ramin zu ihm so ungeheuer wichtig war. Wir können wirklich froh sein, daß wir ihn haben. Menschlich ist er prachtvoll.«
Im Bericht der »Neuen Leipziger Zeitung« vom 20. Dezember 1938 heißt es: »Professor Abendroth ist kein Fremder in Warschau. Innerhalb der letzten zwanzig Jahre ist es das 18. Mal, daß er dort Konzerte gibt.«
Das zweite Konzert
»Die Probe zur IX. war am Sonnabend vor Tisch gewesen. [Am Sonntag] war dann 3 Uhr das Konzert und dies war das stärkste Erlebnis in den Warschauer Tagen. Jedes Jahr hört man die IX., aber diese Neunte in Warschau, die vergessen wir nicht wieder. Auf diesem heißen Boden und gerade in dieser Zeit! Oben in der Botschafterloge – ich saß mit Frau Abendroth in der Mitte des Saales – sah man Moltke, der tief ergriffen war und sich mehrfach die Tränen wischte. ›Alle Menschen werden Brüder‹ an solcher Stelle! Das Quartett sang polnisch und es war, wie Frau Abendroth gesagt hatte, es klang sehr gut zusammen. Eigenartig natürlich, unvergeßlich für uns! Und dann, dieser Beifallsturm! Nicht aufhören konnten sie, wahrhaftig sogar Wiederholung wurde verlangt! Und diese begeisterten Danksagungen von Deutschen und von Polen. Immer wieder haben sie den Chormitgliedern die Hand gedrückt und diesen strahlenden Dank verstand man auch ohne Worte. Es war auf der ganzen Linie ein ganz großer Erfolg und der war hoch zu bewerten. Erstens das ausverkaufte Haus und dann auch, daß doch nichts Feindseliges erfolgte. Davor zitterte ich ehe die Musik ertönte, denn Frau Abendroth hatte mir gesagt, daß er damit rechne, daß gepfiffen werden würde. Man konnte ja nie wissen ...«
Reisebericht: Gertrud Merbach; Einleitung und Anmerkungen: Claudius Böhm