Masaaki Suzuki im Interview

»Bach auf T-Shirts, Schirmen, Tassen!« Als Masaaki Suzuki den Shop des Bach-Museums in Leipzig entdeckte, war er »geradezu schockiert«: So etwas hatte er noch nie gesehen. Doch nicht allein das Merchandising bestimmt sein Bild vom »Leipziger Bach«. Wir sprachen mit dem Dirigenten vor seinem Debüt im Gewandhaus.

Herr Suzuki, wann waren Sie zum ersten Mal in Leipzig?
Masaaki Suzuki: Als ich Student in Amsterdam war, haben wir lange vor dem Mauerfall eine Kulturreise mit dem Bus nach Ostdeutschland gemacht. Wir mussten erst ein paar weniger interessante Orte besuchen, ehe wir in die Stadt kamen. Wir alle waren Organisten und hatten nur Interesse für die Thomas- und die Nikolaikirche in der Bach-Stadt Leipzig. Aber wir kamen erst am Ende des Tages dorthin.

Haben Sie bei diesem Besuch auch Musik zu hören bekommen?
Suzuki: Leider nicht, aber nach dem Mauerfall war ich sehr oft in Leipzig und habe viele Konzerte erlebt.

Wie empfinden Sie den »Leipziger Bach«, beispielsweise vom Thomanerchor?
Suzuki: Der Chor klingt so frisch. Herr Biller macht eine wunderbare Arbeit, und das finde ich sehr schön. Besonders interessant ist, wie vielfältig Leipzig seinen Bach darstellt. Das Gebäude des Bach-Archivs beispielsweise hat vier verschiedene Funktionen: Ganz oben ist die Forschung, dann der Wettbewerb, das Museum, und ganz unten ist der Kiosk. Als ich den entdeckte, war ich geradezu schockiert, denn ich hatte noch nie zuvor einen Bach-Kiosk gesehen. Bach auf T-Shirts, auf Regenschirmen, auf Tassen – ich war so aufgeregt, das musste ich alles kaufen! Jedes Mal, wenn ich in Leipzig bin, schaue ich nun erst einmal im Kiosk nach, ob es etwas Neues gibt. Diese Kombination von seriöser Forschung bis hin zu Merchandising finde ich ideal. Denn man kann heute eben nicht nur eines machen.

Wir haben Ihnen eine Bach-CD aus Leipzig mitgebracht, die Matthäus-Passion, dirigiert von Riccardo Chailly. Hören Sie sich Aufnahmen von Kollegen an?
Suzuki: Ich habe zwar nicht so viel Zeit, jede CD ruhig zu hören. Aber manchmal höre ich Aufnahmen zielgerichtet an, beispielsweise wenn ich Essays schreibe. Dann höre ich bestimmte Stellen, weil es mich interessiert, was die anderen Musiker machen. Und ich vergleiche auch verschiedene Aufnahmen.

Sie haben schon öfter erzählt, die Aufnahme der h-Moll-Messe unter Leitung von Karl Richter habe Sie geprägt. Richter hat in Leipzig studiert und war danach Thomasorganist. Sind Sie also vom »Leipziger Bach« à la Straube und Ramin beeinflusst?
Suzuki: Das mag sein. Seit meiner Kindheit habe ich diese Aufnahme vielleicht tausendmal gehört – sie war so überraschend und schockierend. Richter macht Bachs Musik mit einem riesigen Klang. Davor kannte ich Bach nur als Komponisten einiger Klavier- und Orgelstücke. Ich wusste überhaupt nichts von diesem riesigen Klangbild, dieser Monumentalmusik. Ich habe in einem Studentenclub Trompete in einer Brass-Band gespielt. Darum interessierte mich die Trompete in dieser Aufnahme sehr. Richters Erster Trompeter Adolf Scherbaum faszinierte mich. Besonders im »Dona nobis pacem« der allerletzte Einsatz – das ist so berührend, das habe ich wirklich tausendmal gehört.
Aber es war nicht nur die h-Moll-Messe, auch Karl Richters Aufnahmen der Cembalo- und Orgelwerke waren für mich sehr wichtig. Damals hatte ich angefangen, Orgel im Gottesdienst zu spielen. Ich wollte alle Orgelwerke von Bach spielen, obwohl das an meinem Harmonium eigentlich nicht möglich war.

Sie haben mit dem Bach-Collegium Japan in 18 Jahren alle geistlichen Kantaten Bachs eingespielt. Kritiker bescheinigen den 55 CDs eine durchweg hohe Qualität. Wie war es möglich, die Spannung bis zum Schluss zu halten?
Suzuki: Ich glaube, das ging überhaupt nur, weil die Musik eine so hohe Qualität hat. Es war immer schwer, gute Musiker und Sänger zu finden. Die verschiedenen Sänger geben den CDs natürlich im Einzelnen unterschiedliche Prägungen. Aber wir haben immer probiert, das Optimum zu finden, auch wenn ich persönlich denke, dass das gar nicht möglich ist. Jedes CD-Projekt dauerte gut eine Woche: drei Tage für Proben, dann mindestens zwei Konzerte und schließlich weitere drei Tage für die Aufnahmen. Und es waren immer nur drei bis vier Kantaten. So konnten wir uns stets auf recht wenig Material konzentrieren, konnten intensiv diskutieren und uns vorbereiten. Sogar neue Instrumente haben wir bauen lassen. Ich glaube, wir haben die Zeit sehr ideal genutzt.

Die altertümliche Sprache der Bach-Kantaten ist den Deutschen heute oft unverständlich. Um wie viel schwerer müssen die Texte für Sie und Ihr Ensemble sein?
Suzuki: Ich sehe keinen großen Unterschied zwischen dem damaligen Verständnis des Textes und heutigen Interpretationen. Die biblische Botschaft als Grundlage ist ja gleichermaßen da, auch wenn die Theologie heute eine andere ist. Natürlich ist uns Japanern die deutsche Kultur ebenso fremd wie barocke Denkweisen. Insofern muss ich gar nicht wissen, welche Sätze für heutige Deutsche schwer zu verstehen sind – für Japaner ist grundsätzlich alles schwer zu verstehen. Wir müssen für eine Aufführung sowieso alle Sätze ins Japanische übersetzen und dann diskutieren, was sie bedeuten, damit wir die Botschaft verstehen, die bis heute unverändert ist.

Gab es das intensive Proben und Diskutieren auch noch gegen Ende des Kantaten-Projekts? Hana Blažíková zum Beispiel ist inzwischen eine vielfach gefragte Sopranistin. Konnte jemand wie sie jedes Mal die ganze Zeit dabei sein?
Suzuki: Wir haben immer so viel wie möglich mit denselben Gästen gearbeitet. Mittlerweile sind wir eng befreundet. Es war dann auch immer weniger nötig, viel über Bachs Musik zu sprechen, weil wir zunehmend die gleichen Vorstellungen hatten. Seit gut zehn Jahren haben wir eine stabile Sängerbesetzung. Deswegen müssen wir über Stil oder Textverständnis gar nicht mehr so viel diskutieren.

Ton Koopman und John Eliot Gardiner hatten große wirtschaftliche Schwierigkeiten mit ihren Gesamtaufnahmen der Bach-Kantaten. Gab es auch bei Ihnen kritische Momente?

Suzuki: Für mich ist das Ganze ein Wunder. Das schwedische Label BIS-Records ist zwar sehr klein. Aber sein Chef Robert von Bahr ist ein starker Charakter. Wenn er etwas anfängt, dann bringt er es auch zu Ende. Es kostet natürlich sehr viel, solche Aufnahmen zu machen. Und vergleicht man unsere Konditionen mit denen großer Firmen, sind das vielleicht nicht die besten. Aber genau deswegen war dieses Projekt auch langfristig möglich. Wir hatten am Anfang nicht einmal einen schriftlichen Vertrag, sondern nur eine sehr allgemeine Vereinbarung. Heute müssen wir manchmal über die neuen Vertriebsmöglichkeiten verhandeln, über Internet, über Streaming. Daran war 1995 überhaupt noch nicht zu denken. Ich bin sehr froh, dass wir so vertrauensvoll miteinander arbeiten konnten. Es gab tatsächlich auch finanzielle Schwierigkeiten. Wir haben dann jedes Mal ein wenig diskutiert und immer eine Lösung gefunden.

Diskutiert wird in der Fachwelt bis heute die Größe des »Bach-Chores«. Was spricht aus Ihrer Sicht gegen einen solistisch besetzten Chor in den Bach-Kantaten?
Suzuki: Es sind vor allem musikalische Argumente. Diese Musik klingt mit mehreren Sängern einfach freudiger. Es gibt sicher Kantaten, die man mit einem kleinen Ensemble besser machen kann, die Weimarer Kantaten etwa oder »Christ lag in Todesbanden«. Solche Kantaten habe ich in Konzerten auch schon solistisch besetzt. Für die Aufnahmen aber hatte ich nicht die Flexibilität, mit solistischen Besetzungen zu experimentieren. Es gibt allerdings viele Kantaten, in denen ich einen Wechsel zwischen Tutti und Solisten erkenne, manchmal steht das sogar in den Stimmen. Das haben wir manchmal nachvollzogen, zum Beispiel in der Kantate 109. Wenn ich aber an die A-Dur-Messe denke, die wir gerade aufgenommen haben – der letzte Satz »Cum sancto spiritu« etwa: Wann ist es Solo, wann Tutti? Das hat Bach ja mehrmals geändert. Das ist so kompliziert. Da kann man sich nicht sicher sein, was wirklich richtig ist.

Diskutiert wird auch darüber, Knabensolisten singen zu lassen. Die einen bezeichnen das als authentisch, die anderen als Kinderquälerei. Was halten Sie davon?
Suzuki: Ich kann dazu nichts sagen, da ich kaum Erfahrung mit Knabenchören habe. Es gibt keinen guten professionellen Knabenchor für europäische Musik in Japan. Japanische Knaben können nur japanisch singen; sie auf Deutsch singen zu lassen, ist sehr schwierig. Deswegen habe ich es auch nie probiert.

1975 gastierte der Thomanerchor erstmals in Japan, kurz danach auch der Dresdner Kreuzchor. Haben Sie eines der Konzerte miterlebt?

Suzuki: Nein. Als Jugendlicher lebte ich in Kobe, das ist weit von Tokyo entfernt. Dorthin kamen kaum Gastensembles.

Der ehemalige Konzertmeister des Gewandhausorchesters Gerhard Bosse gründete in Ihrer Heimatstadt das »Kobe City Chamber Orchestra«. Hatten Sie Kontakt zu ihm?
Suzuki: Ich kannte ihn gut. In der Kirche, in der ich in Kobe tätig war, leitete ich einen Chor. In ihm sang die Frau von Gerhard Bosse mit. Er war auch Gastprofessor an der Universität »Geidai« in Tokyo, an der ich unterrichte.

Er hatte seinerzeit in Leipzig ein Bach-Orchester gegründet. Haben Sie sich mit ihm ausgetauscht?
Suzuki: Das wusste ich nicht. Wir haben einige Male miteinander gesprochen, auch Kaffee getrunken, aber es gab keine gemeinsamen künstlerischen Projekte.
Es heißt, Ihr Bach-Collegium sei in Japan das einzige professionelle Barockensemble. Stimmt das?
Suzuki: Mein Bruder, der im Bach-Collegium als Cellist mitwirkt, hat ein eigenes Ensemble gegründet, das auf historischen Instrumenten Musik des gesamten 18. Jahrhunderts spielt. Das dritte derartige Ensemble ist eines, das nur temporär zusammenkommt. Insofern gibt es wirklich nur drei Ensembles, obwohl das Interesse insbesondere an Bachs Musik riesig ist.

Woher kommt dieses Interesse?
Suzuki: Das ist kein spezifisch japanisches Phänomen. Auch in Korea oder in Brasilien etwa gibt es viele Bach-Fans, auch da sind Konzerte ausverkauft. In großen Städten wie Tokyo gibt es sicher sehr viel Enthusiasmus. Wenn wir dort drei, vier unbekannte Bach-Kantaten aufführen, sitzen mindestens 1000 Besucher im Konzert. Das finde ich ziemlich erstaunlich. Ich kann auch nicht erklären, warum das so ist.

In den vergangenen Jahren ist die Anzahl chinesischer Studenten an deutschen Musikhochschulen sehr gestiegen. Wird es in 25 Jahren ein Bach-Collegium China geben?
Suzuki: Von der Situation in China weiß ich leider zu wenig. Aber in Korea geschieht Beachtliches. Noch gibt es dort Probleme, originale Instrumente zu bekommen. Aber es wächst das Interesse. Wir planen gerade die Aufführung der Matthäus-Passion zusammen mit einem koreanischen Ensemble in zwei Jahren in Seoul. Wenn es klappt, wäre das ein spannender Austausch.

Sie bekennen, von »calvinistischem Denken« beeinflusst worden zu sein. Bach war Lutheraner und kein Calvinist. Wie gehen Sie mit diesem Gegensatz um?
Suzuki: Das ist ein interessanter Punkt. Heutzutage ist es kaum noch möglich, Bachs Kantaten im Rahmen eines Gottesdienstes aufzuführen. Stattdessen sind sie gute Musik für den Konzertsaal. Sie erzählen etwas von der Bibel, und diese Botschaft kann man auch außerhalb des Gottesdienstes verbreiten. Die Idee, dass Bachs Musik ebenso wie die Mozarts oder Haydns vor allem ein kultureller Wert ist, ist für mich calvinistisches Denken. Dass ich jetzt zu einer reformierten Kirchgemeinde gehöre, ist zwar nur Zufall und hängt mit meiner Frau zusammen. Aber ich habe dort gelernt, wie man die Kultur in der Welt sehen soll. Für mich ist das eine gute Inspiration, Bachsche Musik auch in weltlichen Anlässen zu akzeptieren und sogar zu genießen. In Japan rezipiert man Musik, die auf der Bibel basiert, als Teil einer general grace. Wenn wir eine Bach-Kantate in einem Tokyoter Konzertsaal aufführen, hören viele Leute zu, die in erster Linie nur die schöne Musik genießen. Andere hingegen erleben das bewusst als biblische Botschaft. Diese Mischung finde ich immer wieder faszinierend.

Sie dirigieren jetzt erstmalig das Gewandhausorchester. Was erwartet die Leipziger bei Ihrer Interpretation von Haydns »Schöpfung«?
Suzuki: Meine Haydn-Interpretation ist natürlich von meinem Bach-Bild beeinflusst. Haydn ist sowieso nicht so weit weg vom barocken Stil. Seine Werke sind oft getragen vom barockartigen Ausdruck. Auf das Orchester bin ich sehr gespannt. Ein wenig ist es mir schon von Aufnahmen her bekannt. Und ich habe es bereits mehrmals in Japan gehört, als es dort gastiert hat. Es ist ein sehr ausdrucksvoll, sehr kraftvoll musizierendes Ensemble.

Das Orchester spielt auf modernen Instrumenten. Wie wichtig ist für Sie die Frage des Instrumentariums?
Suzuki: Natürlich glaube ich, dass das barocke Kernrepertoire mit originalen Instrumenten besser funktioniert. Das ist leichter, auch technisch gesehen. Aber die wichtigste Frage ist für mich nicht, ob man Originalinstrumente hat, sondern ob man gute Musiker hat, die eine Vorstellung von der Musik und deren Stil haben. Im letzten Jahr habe ich bei den New Yorker Philharmonikern ein Mendelssohn-Bach-Programm dirigiert. Mendelssohn war natürlich kein Problem. Doch vor Bach hatte ich wirklich Angst. Aber sie waren so flexibel und haben Anregungen so gut aufgenommen. Natürlich klingt es ganz anders als mit originalen Instrumenten. Trotzdem konnten wir das gemeinsame Musizieren genießen. Darum sehe ich das Problem bei Haydn und dem Gewandhausorchester gar nicht.

Die theologische Welt der Bach-Kantaten ist eine ganz andere als die der »Schöpfung«, die stark von der Aufklärung geprägt ist. War Haydns Oratorium Ihr Wunschstück?
Suzuki: Ich wollte die »Schöpfung« auf jeden Fall dirigieren, ich habe sie auch schon mehrmals aufgeführt. Sie ist für mich eine der besten Nach-Bach-Musiken überhaupt. Ich kann sicher nicht so viel über den theologischen Hintergrund sagen – im Gegensatz zu Bach, bei dem ich wirklich zu Hause bin. In der »Schöpfung« faszinieren mich die Tonmalereien. Es gibt keine Vertreibung aus dem musikalisch so traumhaft schön gezeichneten Paradies, sondern die Geschichte endet positiv. Das ist ein vollkommen anderes Bild als bei Bach.

Bevor Sie das Gewandhausorchester dirigieren, geben Sie ein Orgelkonzert im Gewandhaus. Kennen Sie die Schuke-Orgel?
Suzuki: Diese Orgel im Gewandhaus kenne ich nicht, aber Schuke-Orgeln habe ich schon einige erlebt. In Japan zum Beispiel gibt es eine große im Konzertsaal des Rundfunks, ein fünfmanualiges Instrument. Dieses ist natürlich ganz anders als etwa die Bach-Orgel in der Leipziger Thomaskirche, die ich schon einmal bei einem Bachfest gespielt habe.

Am Anfang erzählten Sie von Ihrem ersten Besuch in der Bach-Stadt. Was ist Leipzig heute für Sie?
Suzuki: Zuallererst nach wie vor die Bach-Stadt. Aber ich habe dort auch erfahren, wie wichtig Mendelssohn für die Stadt war. Er ist für mich der zweitwichtigste der Leipziger Komponisten. In der Zukunft möchte ich mit dem Bach-Collegium Japan viel von ihm spielen, wir haben schon jetzt die Choralkantaten und den »Paulus« mehrfach aufgeführt. Gerade die Kantaten sind für mich spannende Musik. Die Partituren sehen Bachs Werken so ähnlich, aber die Musik klingt ganz anders. Wir haben auch schon einige seiner Fassungen von Bach-Werken musiziert, etwa die des »Actus tragicus«. Mendelssohns Instrumentation sieht zwei Fagotte und zwei Klarinetten vor. Das klingt natürlich total falsch, aber es ist ein Meilenstein der Bach-Interpretation. Auch die Matthäus-Passion in Mendelssohns Einrichtung habe ich schon mehrmals dirigiert. Zum Glück gibt es in Oxford die originalen Stimmen der Fassung, die Mendelssohn 1841 in Leipzig dirigiert hat. Alles das zeigt, wie wichtig Mendelssohn für Bach war und dass man in Leipzig beide nicht voneinander trennen kann.

Interview: Hagen Kunze, Claudius Böhm