Interview mit Werner Schulz
Zum 20. Jahrestag der friedlichen Revolution kam der Europaparlamentarier Werner Schulz nach Leipzig und hielt im Gewandhaus eine fulminante Festrede. Fünf Jahre später besuchten wir den Bürgerrechtler in seinem Haus in der Uckermark und fragten ihn:
Herr Schulz, was halten Sie von Robert Schumann?
Werner Schulz: Das ist ein Komponist, den ich sehr verehre. Sicher hängt es damit zusammen, dass ich aus Zwickau komme. Dort erfährt man relativ zeitig, wie stolz die Stadt auf ihren Sohn ist. Noch dazu hatte ich Klavierunterricht am Robert-Schumann-Konservatorium. Später habe ich festgestellt, dass Schumann sich auch politisch betätigt und mit zu den Kräften gehört hat, welche die 1848er Revolution unterstützt haben. Er hat Ferdinand Freiligraths Hymne »Schwarz-Rot-Gold« vertont. Das war ein politisches Bekenntnis.
Als ich 1990 nach Bonn kam, habe ich als Erstes den Friedhof gesucht, wo das Grab von Robert Schumann ist. Das hat mich sehr bewegt. In der Schule hatte ich gelernt, dass sich sein Grab in Bonn befindet. Das war aber nicht erreichbar, denn es befand sich in Westdeutschland. Und ich habe mich gewundert, warum Schumann in den Westen gegangen ist. So naiv hat man als Kind gedacht, bis man später die komplexe deutsche Geschichte verstanden hat.
Was ist aus dem Klavierspiel geworden?
Schulz: Ich bin über die »Kinderszenen« nicht hinausgekommen. Mir haben der Ehrgeiz, der Fleiß und die Beharrlichkeit gefehlt, weiter Klavier zu üben. Meine Klavierlehrerin stand nicht auf moderne Musik, also musste ich Czerny-Etüden rauf und runter spielen, während die anderen Jungs Fußball spielen konnten. So wurde Schumanns Album »Kinderszenen« mein Schlussstück.
Steht heute noch ein Klavier in Ihrem Haus?
Welche Rolle spielt Musik in Ihrem Leben?
Schulz: Musik spielt eine große Rolle. Ich gehöre zu der Generation, die mit den Beatles, den Rolling Stones und dem Rock ’n’ Roll großgeworden ist. Das war ein Kulturbruch zur Generation unserer Väter. Mein Vater hatte als ehemaliger Wehrmachtsoffizier große Probleme damit, dass sein Sohn plötzlich lange Haare trug und bunte Hemden anzog. Diese amerikanischen Verhältnisse, die da in seine Welt eindrangen, waren für ihn ein gewisser Horror. Wir haben, wie es Christian Kunert von der Klaus-Renft-Combo einmal nannte, die »sächsischen Nahkampfdielen« besucht. In Zwickau war nicht allzu viel los, aber in den Gasthöfen auf den Dörfern rundherum wurde Live-Musik gespielt. Dort traten Renft, Studio 4, die Butlers und all diese Bands auf. Das war Musik, die mich emotional bewegt hat. Und es war eine Art kulturelle Befreiung. Wir waren plötzlich anders. Ich weiß noch, wie wir uns nach bestandenem Abitur einen Bart wachsen ließen. Da wollte uns der Direktor das Abiturzeugnis nicht aushändigen, wenn wir nicht rasiert zur Zeugnisübergabe kämen. Mein Freund aber zog das Geschichtsbuch heraus und zeigte ein Bild von Friedrich Engels, 1848, mit ähnlichem Bart. Der Direktor war pappensatt, das passte nicht in sein Weltbild.
Sie haben 1968 Abitur gemacht und zugleich eine Berufsausbildung zum Lokomotivschlosser abgeschlossen. Wie ging das?
Schulz: Abitur mit Berufsausbildung war ein nicht lange währender Feldversuch in der Bildungspolitik der DDR. Ich sollte eigentlich gar nicht auf die Erweiterte Oberschule kommen, denn ich war kein Arbeiterkind. Aber nachdem sich meine Mutter massiv beim Kreisschulrat beschwert hatte, kam ich dann doch auf die Käthe-Kollwitz-Oberschule, und dort wurde mir die Ausbildung zum Lokomotivschlosser angeboten. Ich habe dadurch den Berufsalltag kennengelernt und erlebt, wie hart die Arbeit in einem Reichsbahnausbesserungswerk war. Als Gesellenarbeit musste ich den Aschkasten für eine 58er Rekolok zeichnen und dann auch selbst bauen.
Dieser Beruf war für mich immer eine Rückversicherung, auch in der Opposition. Ich konnte mir stets sagen, wenn es mich irgendwo mal aus der Bahn tragen sollte, muss ich nicht in einer Kaufhalle Mehltüten aufstapeln oder als Friedhofsgärtner arbeiten, sondern ich bin Schlosser.
Wie nahe waren Sie daran, in diesen Beruf zu gehen?
Schulz: 1968 war ich sehr nahe daran. Mein Vater ist am 17. Mai 1968 gestorben, während meines Abiturs. Das hat mich sehr deprimiert. Noch dazu war die familiäre Situation äußerst angespannt. Meine Schwester wollte 1966 zusammen mit ihrem Mann über Ungarn in den Westen fliehen. Bei der Vorbereitung sind sie festgenommen und anschließend ist mein Schwager zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Meine Schwester war damals im fünften Monat schwanger. Sie hat das Kind in der Untersuchungshaft zur Welt gebracht und zog dann mit ihm bei uns zu Hause ein.
Mein Vater kam aus einem kleinen Ort in Baden-Württemberg, aus einer großen Familie. Als die Mauer gebaut worden ist, war ich mit ihm bei meiner Großmutter in Hemsbach. Dort habe ich am 13. August 1961 die Fernsehbilder gesehen, und die aufgeregten Männer in der Kneipe machten auf mich den Eindruck, jetzt gibt es Krieg. Es waren große Ferien, und ich war im Westen. Aber meine Mutter und meine Schwester waren in Zwickau. Für meinen Vater war das ein Dilemma: Er wusste nicht, ob er in die DDR zurückfahren sollte. Ich als Elfjähriger konnte ihm da nicht raten, ich wollte nur zurück zu meiner Mutter. Mitte September sind wir schließlich in einem völlig leeren Interzonenzug zurückgefahren. Die Grenzer haben uns angeguckt wie Aliens, weil niemand sonst in diese Richtung gefahren ist. Als dann ein Bruder und bald darauf auch eine Schwester meines Vaters starben, durfte er nicht zu den Beerdigungen fahren. Das hat ihn niedergestreckt, daran ist er kaputtgegangen. Er hat es im Nachhinein als einen schwerwiegenden Fehler betrachtet, in die DDR zurückgekehrt zu sein. Er bekam Magengeschwüre und starb durch einen Magendurchbruch – mit 59 Jahren.
Erst die Klassenkameraden haben mich aus meiner Depression herausgeholt. »Komm«, sagten sie, »wir fahren nach Prag.« Wenn man aus so einer verstaubten Stadt wie Zwickau gekommen ist, war Prag so ein bisschen wie Westen. Wir waren junge Intellektuelle, haben Sartre und Camus gelesen und natürlich über den Prager Frühling geredet: »Das ist wirklich Sozialismus, das ist nicht mehr aufzuhalten, das schwappt rüber in die DDR«, sagten wir. Dann marschierten am 21. August 1968 die Russen ein und machten allen Reformbemühungen in der ČSSR ein Ende. Ich ging zum Studium nach Berlin, und bei der Einführungsvorlesung an der Humboldt-Universität verlangte der Prorektor, alle sollten eine Resolution unterschreiben, mit der der Einmarsch der Roten Armee in Prag begrüßt wurde. Ich unterschrieb das nicht. Einen Tag später wurde ich mit zwei Kommilitonen, die auch nicht unterschrieben hatten, zu diesem Prorektor gerufen, und der stellte uns das Ultimatum: Wenn wir bis Ende der Woche nicht unterschrieben hätten, könnten wir unsere Exmatrikulationsurkunden abholen. Ich bin nach Hause gefahren und habe zu meiner Mutter gesagt: »Das war’s. Ich werde nicht studieren. Ich unterschreibe da nicht. Ich habe einen Beruf, ich kann auch arbeiten gehen.« Darauf sie: »Bist du verrückt? Setz Deinen Gustav Werner darunter und denk dir deinen Teil! Das ist doch nur eine Formalie. Du wirst hier sonst nie mehr studieren können. Dein Vater hat so große Stücke auf dich gehalten, er war so stolz, dass du studieren kannst.« Da bin ich zurückgefahren, habe unterschrieben – und mich speiübel gefühlt, wochenlang. Das war wie ein Genickbruch. Man hatte mich gedemütigt, mich zu etwas gegen meine Überzeugung gezwungen. Von da ab habe ich den Weg in die Opposition gesucht.
1980 haben Sie sich nicht erneut demütigen lassen – um den Preis, dass Sie Ihren Job an der Universität verloren. Waren Sie danach arbeitslos?
Schulz: Ja, ich war ein Dreivierteljahr arbeitslos. Da hat sich wiederholt, was ich 1968 erlebt hatte, und damit hat sich für mich ein Kreis geschlossen: Den Mut, den ich ’68 nicht hatte, habe ich ’80 aufgebracht. Im Dezember 1979 waren die Sowjets in Afghanistan einmarschiert, und Anfang 1980 sollte wieder so eine verlogene Resolution unterschrieben werden. Da bin ich aufgestanden – dank meinem Professor war ich, obwohl parteilos, 1974 als Assistent an die Universität berufen worden – und habe gesagt: Ich hielte es für einen verheerenden Fehler, so eine Intervention durchzuführen. Möglicherweise werde Afghanistan das Vietnam der Sowjetunion. Im Übrigen erinnere mich das sehr an Prag ’68. Auch da habe es angeblich einen Hilferuf von Kommunisten gegeben, und auch damals sollten Resolutionen unterschrieben werden. Ich fände es an der Zeit zu diskutieren, anstatt Unterschriften einzusammeln.
Da gab es natürlich helles Entsetzen unter den Professoren. Die Studenten wiederum johlten: Jemand aus dem Lehrkörper sagte, was sie selbst dachten, aber nicht zu sagen gewagt hätten. Der Dekan brach die Versammlung ab, und ich bin postwendend entlassen worden. So durfte ich die interessante Erfahrung machen, in der DDR arbeitslos zu sein – ohne Arbeitslosenhilfe. Denn Arbeitslosigkeit gab es in diesem Staat offiziell nicht. Es war eine harte Zeit. Ich war verheiratet, wir hatten gerade ein Kind bekommen und mussten von dem Einkommen meiner Frau leben.
Sie waren der einzige Bündnisgrüne, der im Bundestag gegen »Hartz IV« gestimmt hat. War das auch eine Konsequenz aus dieser Erfahrung?
Schulz: Nicht nur. Mich hat insbesondere der Tagessatz empört. In der Fraktion habe ich gefragt: »Meint ihr wirklich, dass ihr das vertreten könnt? Ihr zahlt hier für einen Latte macchiato 3,50 Euro. Dieser Preis ist höher als der für Lebensmittel vorgesehene Tagessatz eines Hartz-IV-Empfängers. Das ist doch unglaublich, dass wir so etwas mitmachen.« Das war für mich eine Gewissensentscheidung. Und ich sage Ihnen: Freunde schafft man sich damit nicht.
Ist die Politik der richtige Platz für Mahner wie Sie?
Schulz: Es ist kein Platz, auf dem man sich bequem einrichten könnte. Aber Politik hat nicht nur etwas mit Leidenschaft zu tun, sondern auch mit Gerechtigkeit. Möglicherweise hat sich das bei mir in der DDR ausgeprägt. Ich fand vieles ungerecht. Wieso zum Beispiel soll es ein Verbrechen sein, dass jemand in ein anderes Land ziehen will? Oder warum wurden politische Witze mit Haftstrafen geahndet? Ich hätte gern Jura studiert, aber es war mir von Anfang an klar: In diesem Land kannst du es nicht tun, du müsstest sonst ständig mit ungerechten Gesetzen umgehen.
25 Jahre nach dem Herbst 1989 ist oft zu lesen, mit dem Mauerfall habe die friedliche Revolution ihren Gipfelpunkt erreicht. Können Sie dem zustimmen?
Schulz: Das Kernanliegen der Bürgerrechtsbewegung waren freie Wahlen und die Zulassung anderer politischer Kräfte. Die Maueröffnung war eine Folge der ganzen Umwälzungen. Bärbel Bohley hat am 9. November ’89 gesagt, diese Öffnung komme zu früh. Das haben viele als sehr daneben empfunden. Im Grunde genommen war das aber nicht falsch: Das Neue Forum wollte die Öffnung des Landes am Ende des politischen Prozesses sehen, nach Erringung und Etablierung der grundlegenden bürgerlichen Rechte und Freiheiten.
Das erste Ziel ist also erst erreicht worden mit der freien Wahl zur Volkskammer im März 1990?
Schulz: Das erste Ziel war tatsächlich diese freie Wahl. Am 3. Oktober ’89 gab es in Berlin ein konspiratives Treffen von Vertretern der Oppositionsgruppen. Wir haben dort das Bündnis 90 geschmiedet, wenn auch noch nicht mit diesem Namen, so doch schon mit dem Ziel: Zur nächsten Volkskammerwahl werden wir in den Kirchen alternative Wahllokale einrichten und eine alternative Wahlliste aufstellen. Wer seine Wahlbenachrichtigung bekommen hat, der kann in diese alternativen Wahllokale gehen und dort frei wählen. Und das alles unter Aufsicht der UNO. Das heißt, die Kernforderung war tatsächlich: freie Wahlen.
Kurz darauf sind Sie als Verbindungsmann des Neuen Forums nach Sachsen geschickt worden. Wie kam es dazu?
Schulz: In Berlin spitzte sich die Situation mehr und mehr zu. Die Stasi reagierte immer hysterischer auf die Protestdemonstrationen, die in Erinnerung an die Fälschung der Wahl vom 7. Mai ’89 am siebten eines jeden Monats stattfanden. Vor dem 7. Oktober sprachen wir im Neuen Forum darüber, dass auch in Leipzig die Situation brenzlig ist und rund um die Nikolaikirche Demonstrationsversuche niedergeschlagen worden sind. Bärbel Bohley meinte, wir müssten jemanden nach Leipzig schicken, und fragte, wer denn bereit sei. Alle zogen die Köpfe ein, niemand wollte in dieser spannenden Situation weg aus Berlin. Da fragte sie: »Wer versteht denn diesen Dialekt da unten?« Darauf habe ich gesagt, ich sei Sachse, ich käme gut damit zurecht und würde auch Christian Führer kennen, den Pfarrer der Nikolaikirche. »Jaaa«, sagte sie, »da bist du doch der geeignete Mann.«
Als ich am 9. Oktober in Leipzig ankam, dachte ich: ›O Gott! Hier sieht es ja noch schlimmer aus als in Berlin.‹ Man hat überall in den Seitenstraßen die Fahrzeuge der Bereitschaftspolizei und der Kampfgruppen gesehen. Es war gespenstisch. Natürlich ging dann bei der Montagsdemonstration die Angst mit. Ich dachte immer wieder: ›Jetzt kommt es. Die müssen doch, wenn sie das noch aufhalten wollen, irgendwo angreifen.‹ Dass es dann so zu Ende gegangen ist, hatte ich nicht für möglich gehalten. Aber es war mir klar: Das ist jetzt der Durchbruch, das lässt sich nicht mehr aufhalten.
Wie haben Sie den Aufruf der »Leipziger sechs« wahrgenommen?
Schulz: Ich habe ihn über die Lautsprecher gehört. Es zeigte einerseits, wie ernst die Situation war. Andererseits ging mir durch den Kopf, ›mein Gott, Masur, hättest du mal ein bisschen früher den Mut gehabt, was zu sagen‹. Bei Bernd-Lutz Lange war es sehr konsequent, fand ich. Ich kannte ihn schon lange und wusste, dass er ein kritischer Geist war. Als ich hörte, dass auch drei Sekretäre von der SED-Bezirksleitung den Aufruf unterschrieben hatten, habe ich gedacht: Wenn jetzt schon solche Leute mit dabei sind, dann gibt es eigentlich keinen Grund mehr, die Demonstration aufzuhalten. Trotzdem hatte die militante Kulisse etwas sehr Beunruhigendes. Wir alle wussten von dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking und wie viel Verständnis Egon Krenz für die chinesischen Genossen geäußert hatte.
Waren die Ereignisse vom Herbst 1989 wirklich eine Revolution?
Schulz: Ja. Sie waren eine Revolution neuen Typs: gewaltlos, ohne Führer, ohne Avantgarde, ohne ideologisches Programm. So etwas wird leicht diffamiert; später wurde von »Spaziergänger-« oder »Feierabend-Revolution« gesprochen. Dahinter stecken diese romantischen Vorstellungen, dass die Revolutionäre mit der Waffe in der Hand die Herrschenden stürzen. Unsere Revolution war anders. Es war eine allgemeine Umbruchstimmung vorhanden: So kann es nicht weitergehen. Die Leute hatten es satt, in Unfreiheit und Bevormundung zu leben, auch in dieser permanenten Schizophrenie: Jeden Abend ist das Volk in den Westen emigriert, indem es das Westfernsehen eingeschaltet hat. Dort hat es eine andere Welt erlebt und gemerkt, wie es im eigenen Land belogen wurde. Das Maß war voll. Daraus ist der Protest entstanden, der in eine friedliche Revolution mündete. Es ist übrigens auch eine protestantische Revolution gewesen: Die evangelische Kirche war praktisch das Basislager dieser friedlichen Revolution. Es waren überwiegend Kirchen, von denen die Demonstrationen ausgegangen sind. Es sind nie Rathäuser oder Kulturhäuser gewesen oder gar Universitäten. 1848 waren die Studenten der treibende Teil. Diesmal war es die Bevölkerung; aus den kleinen Bürgerrechtsgruppen ist eine wirkliche Bürgerbewegung entstanden.
Was ist geblieben vom Bündnis 90 außer dem Namen?
Schulz: Die Namen der anderen Parteien und Gruppen aus der Zeit der friedlichen Revolution sind alle verschwunden. Bündnis 90 hat als einziger Begriff überlebt, das ist schon sehr viel wert. Und es hat auch die Grünen verändert. Die Kultur der Grünen ist eine andere geworden, zumindest in einigen Punkten. Das Bündnis 90 hat ihnen einen zweiten Atem verschafft. Es wäre ihnen sonst nie gelungen, 1994 wieder in den Bundestag zu kommen oder 1998 sogar zu einer rot-grünen Regierung.
Dass das Bündnis 90 nach dem Mauerfall von verschiedenen Kräften aufgebrochen worden ist, auch durch den Einfluss der Westdeutschen, bedaure ich bis heute. Es wäre in vielen Punkten ein anderer Einigungsvertrag geworden, wenn wir die Verhandlungen über die deutsche Einheit geführt hätten. Viele Verwerfungen, die dann eingetreten sind – in den Eigentumsfragen beispielsweise oder mit der Schließung von Betrieben –, haben wir diesem schlecht und nicht auf Augenhöhe verhandelten Einigungsvertrag zu verdanken.
Sie stammen aus Sachsen. Wie beschämend ist es für Sie, dass in diesem Bundesland ausgerechnet Wladimir Putin ein Dankesorden an die Brust geheftet worden ist?
Schulz: Es ist zum Glück ja nur ein »Operettenorden«, kein Orden der Staatsregierung. Überreicht hat ihn allerdings der Ministerpräsident, der noch dazu selbst die Laudatio gehalten hat. Und die ist nach wie vor auf der regierungsamtlichen Internetseite des Ministerpräsidenten zu finden. Das gibt diesem komischen Orden so etwas Offizielles. Gerade zu einer Zeit, als Russland der Ukraine den Gashahn abgedreht hatte, als man in Ungarn und der Slowakei gefroren hat, da wurde in der warmen Semperoper dieser Orden überreicht. Das zeigt, wie ungerecht es zugeht und wie wichtig es ist, dass man das benennt und sich dagegen stemmt. Ich habe diese Peinlichkeit in meiner Rede am 9. Oktober 2009 im Gewandhaus angesprochen. Da gab es spontanen Beifall, ich hatte damit gar nicht gerechnet. Ich wollte nur nicht hinterm Berg halten mit meiner Kritik: Man hat sich versündigt in Sachsen, solch einen Mann auszuzeichnen, der seit Jahren ein autoritäres System aufzieht, in dem die Menschenrechte wieder missachtet werden und wo wieder zur alten Leier von den Faschisten gegriffen wird. Jetzt sind sie laut Putin in die ukrainische Regierung eingezogen. Mein Gott, sage ich da, da kommt dieser verlogene Antifaschismus schon wieder. 1953 wurde der Volksaufstand in der DDR als faschistische Konterrevolution diffamiert, das Gleiche geschah 1968 in Prag. Nun redet man wieder von einem faschistischen Putsch, der auf dem Majdan in Kiew stattgefunden hätte. Das war es aber nicht. Es war das Gleiche, was wir in Leipzig erlebt haben. Es war eine friedliche Revolution, eine »Revolution der Würde«, wie sie in der Ukraine sagen. Die Leute standen drei Monate in klirrender Kälte und haben für Rechtsstaatlichkeit, für ein Ende der Korruption und für den Anschluss an Europa demonstriert. Als dann versucht worden ist, den Majdan mit Gewalt zu räumen, kam es zu Gegengewalt. Ich weiß nicht, was aus Leipzig geworden wäre, wenn es dort zu Gewalt gekommen wäre. Statt der Kerze den Stein in die Hand zu nehmen, das ist manchmal ein kurzer Moment.
Interview: Claudius Böhm