So widersprüchlich ist Architektur

Hier ein Gotteshaus, das nicht wie eine Kirche aussieht, dort ein Universitätsgebäude, das an eine Kirche erinnert – zwei stadtprägende Leipziger Neubauten

Nichts blieb unversehrt. Der spätgotische Turm genauso wenig wie das Kirchenschiff mit den Rokoko-Malereien, dem marmorierten Altar und den hölzernen Emporen. Verstummt sind nach sechs Jahrhunderten die Bronzeglocken. Brandgeschwärzt liegt die Ruine der alten Dorfkirche in der Mitte von Tellschütz, einem kleinen Ort südlich von Leipzig. Noch stehen die Außenmauern, die einmal umgaben, was das Feuer einer Nacht im Januar zerstört hat. Jeder Zweite in Tellschütz gehört der kleinsten Gemeinde des Kirchenbezirks an, 55 Seelen, die kein Gotteshaus mehr haben. Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; der Name des Herrn sei gelobt.

Ein paar Kilometer nördlich haben viele der Älteren nicht vergessen, wie es sich anfühlt, die eigene Kirche verschwinden zu sehen. Vor 47 Jahren haben sie die Universitätskirche St. Pauli verloren, die so zentral in ihrer Stadt lag wie die Dorfkirche in Tellschütz. Nikolaus Krause war im Mai 1968 Theologiestudent und stand kurz vor dem Staatsexamen. Er hatte ein Jahr zuvor in der Paulinerkirche gepredigt, so wie es üblich war für Theologiestudenten. Krause sprach über den Turmbau zu Babel, über demutloses Volk, das mit dem Bau eines Turms begann, der bis in den Himmel reichen sollte.

Die DDR hatte vielleicht kein Babylon, aber sie hatte einen Turmbaumeister zu Berlin, der sich auch aufs Sprengen verstand. Noch bevor die Blumen dahingewelkt waren, die Studenten als stille Geste des Widerwillens an den Absperrzaun vor der Unikirche angebracht hatten, wurde am 30. Mai 1968 vollendet, was Walter Ulbricht bereits acht Jahre zuvor beim Verlassen des neueröffneten Opernhauses mit einem »Das Ding muss weg!« in die Wege geleitet haben soll.

Am Morgen versammelten sich Tausende um den Karl-Marx-Platz, unter ihnen auch Krause. »Ich stand mit vielen anderen im Schatten der Nikolaikirche. Keiner wusste vom anderen, ob er Freund oder Feind ist, also schwiegen wir.« Um 9.58 Uhr wurde in Sekunden zerstört, was 728 Jahre überdauert hatte. »Das ›Ding‹ brach zusammen und legte sich hin wie ein klappriger Esel, der unter der Last seiner Jahre zusammensinkt.« Krause ging nach Hause, »schweigend mit mir selbst«, wie er sagt. Schweigen, nichts als Schweigen: »Es kam zu keinem Aufschrei im Augenblick der Sprengung, wir fielen in einen Duldungsmodus, als habe sich der Staub der gesprengten Kirche auf unser Gemüt gelegt.«

Krause wurde noch im September desselben Jahres verhaftet und für zwei Jahre eingesperrt. Über seine Zeit in Haft spricht er nicht mit annähernd so viel Verbitterung wie über das Ende der Paulinerkirche. »Noch heute habe ich einen Grundzweifel an dem Gott, der seine eigene Kirche sprengen lässt.« Der 30. Mai 1968 sei sein Lindenblatt, die verwundbare Stelle seines Glaubens.

Jeder will mitreden

Mit der Universitätskirche verloren auch die Katholiken ihr Interim, eine eigene Kirche hatten sie schon seit 1943 nicht mehr. Anfang und Mitte der Fünfziger beseitigten sie Trümmer und Ruine der alten Trinitatiskirche, weil ihnen die Genehmigung eines Neubaus erteilt worden war. Doch der Staat änderte seine Meinung kurzerhand und versagte den Katholiken ihr Gotteshaus, weil in einer sozialistischen Stadt kein Platz für eine katholische Kirche sei. »Das hat uns weichgekocht«, sagt Pfarrer Gregor Giele. Erst 1978 begannen sie zu bauen, nicht mehr im Zentrum, sondern recht abgelegen am Rande des Waldstraßenviertels. Doch von Anfang an war die neue Kirche schadhaft, Wasser drang wieder und wieder ein, weil der Baugrund falsch ausgewiesen worden war. »Das ganze Bauwerk schwimmt förmlich«, sagt Giele. Im Vorraum der Kirche hängen heute T-Shirts, wie sie die Gemeinde eigens anfertigen ließ, um für einen Neubau Spenden einzuwerben. René Descartes und Martin Luther legen sie Aufrufe zum Spenden in den Mund, die offenbar erhört wurden: Immerhin sechs Millionen Euro hat die Kirche in den vergangenen Jahren gesammelt. Binnen zweier Jahre wurde Sankt Trinitatis auf einer Wiese in unmittelbarer Nachbarschaft zum Neuen Rathaus errichtet und wird nun wohl im Mai geweiht werden.

Der Rohbau war noch nicht fertig, da führte eine Boulevardzeitung schon Umfragen durch und sammelte Meinungen kritischer Leipziger, wie sie sich auch in Kommentaren im Internet finden. Die neue Kirche sei ein abweisender Klotz, heißt es darin, einem Kohlekraftwerk ähnlicher als einem Haus Gottes. »Auf Kritik dürfen Sie nichts geben«, sagt Ansgar Schulz, der Architekt. »Keine Kunst ist so demokratisch wie Architektur, jeder will mitreden und meint, Ahnung davon zu haben.« Schulz gewann Ende 2009 den Architektenwettbewerb gemeinsam mit seinem Bruder Benedikt, es war ihre erste Kirche. Für nachfolgende Entwürfe sind sie seither prämiert worden, etwa für die Planung eines Kirchenneubaus in einer kleinen Gemeinde in Norwegen, deren altes Gotteshaus das gleiche Schicksal erlitt wie jenes in Tellschütz.

Als sei sie herabgefallen

Ansgar Schulz spricht über die Pläne für Sankt Trinitatis in langen und schönen Sätzen, die so klar und nachvollziehbar sind wie die Modelle, die auf dem Tisch vor ihm stehen. Die Propsteikirche sei so geplant worden, dass sie vom ersten Tag ihrer Fertigstellung an aussehe, als stünde sie schon immer am Martin-Luther-Ring. »Wie haben wir das gemacht?«, fragt Schulz, als sei er bereit, Einblick in seine Alchemistenwerkstatt zu gewähren. Das Grundstück war jahrzehntelang wenig mehr als eine Hundewiese mit einem Trampelpfad, der Studenten den Weg vom Audimax in die Institute des Musikviertels abkürzte. Wenn die Nonnenmühlgasse so bebaut sein wird, wie es die Modelle der Brüder Schulz schon vorwegnehmen, bleibt ein dreieckiges Grundstück. »Wir haben die alten Flurlinien wiederhergestellt und dieses Dreieck ausgegossen«, sagt Ansgar Schulz. Die Kirche füge sich in die Morphologie des Standorts, als sei sie von oben auf das Grundstück herabgefallene Baumasse.

Mit dem nach Norden und Süden hin offenen Pfarrhof wollten sie, so Schulz, an die Leipziger Tradition der Passagen anknüpfen und zugleich Studenten die Abkürzung erhalten. Beim Durchqueren werfen diese vielleicht einen Blick durch die »Schaufenster« – noch so eine Reminiszenz an die alte Handelsstadt – hinein ins Innere der Kirche und werden so womöglich neugierig. Das mit der Neugier habe schon in der Auslobung gestanden; die Kirche wolle missionarisch sein, hieß es darin.

Die Pflicht eines Architekten sei, ein funktionierendes Gebäude zu bauen, das sich der Bauherr leisten könne. »Die Kür aber ist, wenn das emotionale Moment hinzukommt und der Mensch durch das Raumempfinden so bewegt wird, wie es bei Kirchen der Fall ist«, sagt der einstige Ministrant Schulz. Ihr Entwurf habe die Anforderungen der Propsteigemeinde in Raum und Form übersetzt und dabei auf ornamentalen Prunk verzichtet.

Gäbe es den 50 Meter hohen Turm nicht, die mit Rochlitzer Porphyr verkleidete Kirche sähe in ihrer puristischen Strenge nicht aus, wie es von Kirchen erwartet wird. Aber über diese Vorstellung lacht Schulz. »Sehen Sie«, sagt er, »so widersprüchlich ist Architektur: Wir haben hier eine Kirche, die scheinbar nicht wie eine aussieht; einige Meter weiter sieht ein Gebäude zwar aus wie eine Kirche, ist aber keine.«

Was Ulbricht sagen würde

Das Architektenbüro Schulz & Schulz hat sich anfangs noch am Wettbewerb um die Planung der neuen Universitätskirche beteiligt, stieg dann aber schnell aus. »Es war früh erkennbar, dass zu viele widerstreitende Interessen im Spiel waren, als Architekt lässt sich dann nur sehr schwer planen – das Ergebnis sieht man jetzt«, sagt Ansgar Schulz.

Das Schönste an der neuen Universitätskirche ist die Vorstellung, was der Staatsratsvorsitzende heute sagen würde, wenn sein Blick beim Verlassen der Oper auf den grau-blauen Monolith aus Glas und Stein und Aluminium fiele, der wie die leibhaftige Wiederkunft Sankt Paulis aus der Tiefe emporgeschossen zu sein scheint. Der niederländische Architekt Erick van Egeraat hat den neuen Campus am Augustusplatz geplant und dabei die Erinnerung an den Vorvorgängerbau nicht abreißen lassen. Doch hinter der Rosette, mit der er die alte Universitätskirche zitiert, verbirgt sich kein rein geistliches Leben mehr. Über der Kirche liegen Seminarräume der Mathematiker, Descartes hätte an dieser Kirche seine Freude. Ohnehin ist nur schwerlich von einer Kirche zu sprechen bei einem Raumkonzept, das Andacht und Aula verbindet und dennoch voneinander trennt: »Paulinum – Aula / Universitätskirche« wird der mühsam vereinbarte Kompromiss nun genannt. Der Schrägstrich steht für die Glaswand, die beide Sphären scheidet. Der Streit um die Inneneinrichtung des Paulinums ist das, was man mit gebührendem zeitlichen und räumlichen Abstand wohl eine »Lokalposse« nennen müsste, würde man sich nicht dem Vorwurf geschichtsvergessener Ignoranz aussetzen wollen. Denn das böse Blut, das es um das Paulinum in den vergangenen Jahren gab, trat hervor aus unverheilten Wunden.

Universitätsprediger Peter Zimmerling spricht von einem weltanschaulichen Kampf, der hinter den vielen Auseinandersetzungen um das Paulinum stehe. Er wisse aber auch, wie viele Leipziger an der Karl-Marx-Universität studiert hätten und irgendwie mit der Universitätskirche verbunden seien. Zimmerling ist Professor für Praktische Theologie. Die Studierenden, sagt der 56-Jährige, interessiere der Streit nicht so sehr, das stelle er leider auch bei seinen Theologiestudenten fest.

Andere sind engagierter, etwa der Herr von der »Leipziger Bürgerinitiative – Für eine weltoffene, weltliche und autonome Universität«. Obwohl er seinen Standpunkt geduldig erklärt und viele gute Argumente dafür nennt, will er nicht namentlich zitiert werden. Er selbst sei nicht antireligiös, sagt er, aber er habe etwas gegen den Klerus und dessen Vereinnahmung weltlichen Terrains. Die Universität sei kein »geistiges und geistliches Zentrum«, wie es manchmal heiße, das könne in einer weitgehend konfessionslosen Stadt längst nicht jeder unterschreiben.

Tatsächlich bekennen sich 80 Prozent der Leipziger zu keiner Religion.

Das wird der Stadt guttun

Architektur, so eine verbreitete Meinung, sei ein Spiegel der Gesellschaft. Und zwar der gesamten Gesellschaft. Also müssten sich die etwa 10 000 Leipziger Muslime ganz selbstverständlich eine angemessene Repräsentation ihres Glaubens errichten dürfen, gegen den sich mancher Abendländer zur Wehr setzt: Auf dem Baugrundstück der Moschee der etwa 60 Mitglieder zählenden Ahmadiyya-Gemeinde in Leipzig-Gohlis pfählten Unbekannte im November 2013 Schweineköpfe, gegen das Bauvorhaben organisierten Nachbarn Kundgebungen oder reichten Widersprüche ein. Mehr als die Architektur selbst eine Gesellschaft spiegeln kann, sind es die sie umflechtenden Diskurse.

Eine andere Meinung über Architektur lautet, sie kommuniziere Machtverhältnisse durch die Aneignung von Boden. Ansgar Schulz, der Architekt der Propsteikirche, ist stolz darauf, dass seine Kirche gemeinsam mit dem Neuen Rathaus das südwestliche Einfallstor der Innenstadt bildet und sich der 50 Meter hohe Turm mit den Rathaustürmen gleichauf befindet. Eine Machtdemonstration oder gar Anmaßung sieht Pfarrer Gregor Giele darin nicht, »aber ein Zeichen setzen wollten wir schon«. Dennoch sei der Neubau mehr als ein Zeugnis neuerwachten Selbstbewusstseins einer Gemeinde, die sich nach schikanösen Jahren des Wartens irgendwann nicht mehr daran störte, am Rande des Waldstraßenviertels zu kauern, und die womöglich noch lange dort kauern würde, wäre es nur nicht so nass. Jetzt, mit sicherem Tritt auf festem Boden und einer wachsenden und jungen Gemeinde im Rücken, könne sie leisten, was Thomaskirche und Nikolaikirche nicht vermochten: »Unser Haus soll ein Ruhepunkt sein inmitten des Trubels und ein Quellort zum Kraftschöpfen. Das wird der Stadt guttun.«

Zwei neue Kirchen – Universitätsprediger Zimmerling ahnt, dass dieses kräftige Aufblühen vermittelt werden muss. »Wir sollten plausibel machen: Das ist etwas Positives, etwas, das allen Menschen nützen kann.«

Sie sammeln schon Spenden

Abseits der Religion, in den Ebenen nüchtern kalkulierender Profanität, in der Kirchen nur Steine sind und ihr Mehrwert vom Stadtmarketing bemessen wird, ist zumindest das Paulinum ein Zugewinn im Wettstreit der Metropolen. Der Berliner Stadtplaner und Sozialwissenschaftler Harald Bodenschatz schreibt über die Stadt der Zukunft, jedes urbane Zentrum müsse sich schon heute als Spiegel von Geschichte und Tradition inszenieren, gleichzeitig aber auch seine Zukunftsfähigkeit präsentieren. Die Entscheidung für den Bau des Paulinums war deshalb auch eine vergangenheitspolitische Entscheidung, ein Wiederanknüpfen an den durch die Jahrhunderte gesponnenen Faden, der so jählings abgeschnitten wurde.

Die Tellschützer wollen keine viereinhalb Jahrzehnte vergehen lassen, um ihr Gotteshaus auferstehen zu sehen. »Der Anblick ihrer niedergebrannten Kirche rief den Menschen all die Taufen und Trauungen, die Abschiede und Gottesdienste in Erinnerung«, sagt Pfarrerin Barbara Hüneburg. Auch deshalb sammeln die Menschen in Tellschütz schon Spenden für einen Wiederaufbau oder Neubau, so genau weiß das noch niemand. Eine Kirche aber wollen sie hier bald wieder haben, so viel ist gewiss, denn was ist schon ein Dorf ohne Kirche.

Michael Sellger