Editorial

Den Sommer des Jahrhunderts nennt Buchautor Florian Illies das Jahr 1913 (siehe Seite 14 in unserem Heft). Ist dieses Jahr auch für das Gewandhaus eine Sommerzeit? Im ersten Konzerthaus am Platz, wo Brahms ohnehin schon rauf und runter gespielt wird, dass den Leuten das Brahms-Hören längst vergangen sein muss, gibt es Ende Oktober das erste von vier reinen Brahms-Programmen. Dabei hatte das Jahr schon mit Brahms begonnen: Seine dritte Sinfonie war das Schlussstück des Neujahrskonzerts. Und davor war eines seiner Lieder gesungen worden: »Meine Liebe ist grün«. Was nichts mit Öko oder Bio oder gar Müllverwertung zu tun hat.

Ende Januar, zeitiger als sonst, beehrt der Landesvater das Konzerthaus. In den Vorjahren war er mit schöner Regelmäßigkeit Ende Februar gekommen. Diesmal liegt dem Programmheft ein rosa Zettelchen bei: Es werde »höflichst gebeten«, nach dem Glockenton »ungesäumt die Plätze wieder einzunehmen, damit beim Erscheinen Sr. Majestät des Königs im Mittelbalkon der zweite Teil des Konzerts sofort beginnen« könne. Wollte Friedrich August III. noch mal gucken, wo er achteinhalb Monate später am bequemsten säße? (Siehe Seite 16 ff.)

Mitte März gibt es wieder Brahms: eine Kammermusik, die sich steigert vom Horntrio über das Klavierquartett bis zum Klarinettenquintett. Letzterem wird gern der »traurig-schöne Klang des Fin de siècle« bescheinigt. Einer, der im ersten Teil des Abends mitwirkt, hört im zweiten ganz genau zu: Max Reger. Drei Tage später wird er 40. Zwei Jahre darauf schreibt er selbst ein Klarinettenquintett – und zitiert darin das Brahms’sche. Die Uraufführung am 29. Oktober 1916 im Gewandhaus mit haargenau derselben Besetzung wie im März 1913 erlebt er nicht mehr. (Siehe auch unser Interview mit Sabine Meyer auf den Seiten 30 ff.)
Im Sommer finden in Bayreuth keine Richard-Wagner-Festspiele statt. Und das Gewandhausorchester darf der Einladung Siegfried Wagners zu einem Gastspiel in der Stadt des Grünen Hügels nicht Folge leisten. Auch eine für dieses Jahr geplante Südamerikatournee sei am Widerstand der städtischen Behörden gescheitert, heißt es. Das ist Futter für Frust genug. Ausgerechnet im Oktober, wo die Einweihung des Völkerschlachtdenkmals (siehe Seite 22 ff.) aller Aufmerksamkeit der Ämter und Behörden bedarf, probt das Orchester den Aufstand und schreibt an die Stadt: Der seit einem Jahr mit zu verrichtende Dienst im Operettentheater sei »das entschieden Unwürdigste ... Die Sitzweise des Orchesters, die Akustik und anderes verhindern eine tonschöne Ausführung. Ein Orchester, das heute im Gewandhaus oder Opernhaus in hochkünstlerischer Weise wirkt und morgen dazu verdammt ist, in solchen Verhältnissen Dienst direkt niederer Art zu tun, wäre seiner selbst nicht würdig, wollte es sich zu solcher Arbeit herabwürdigen lassen. Wir sind es unserer Ehre schuldig zu erklären, daß wir diesen Dienst ferner nicht ausführen werden.« Gestreikt wird dann allerdings doch nicht.

»Summer Night on the River« und »On Hearing the First Cuckoo in Spring« heißen zwei Orchesterstücke, die am 23. Oktober im Gewandhaus zur Uraufführung kommen. Der Komponist Frederick Delius ist schon bei der öffentlichen Hauptprobe am Vortag dabei und berichtet danach seiner Frau Jelka: »Nikisch played the 1st piece (Spring) much too slow«. Viel zu langsam der »erste Kuckuck im Frühling«; aber die »Sommernacht am Fluss« findet Delius most beautifully, ja geradezu perfect gespielt.

Am Jahresende gibt es nicht Beethovens Neunte, die Silvestertradition ist noch nicht geboren. Stattdessen tags darauf wieder Brahms, und schon wieder seine Dritte. Diesmal jedoch wird das Neujahrskonzert mit ihr eröffnet und danach erst gesungen: »Meine Liebe ist grün«. Grün nämlich »wie der Fliederbusch«. Die Farbe schien uns dennoch für dieses Heft nicht zu passen, nicht zu 1913 und erst recht nicht zu den Ereignissen 100 Jahre davor (siehe Seite 26 ff.). Aber zu Johannes Brahms, dem »Sommerkomponisten«? Vielleicht.

Claudius Böhm