Editorial

Schon seit Anfang des Jahres gleicht das Erinnern einem Grundrauschen. Jetzt im Juni, in denen sich die Schüsse von Sarajevo zum hundertsten Mal jähren, steigert sich das kollektive Gedenken zum Orkan. Grund für uns, der Frage nachzugehen, wie es den Musikern des Gewandhausorchesters im Ersten Weltkrieg erging.

Dass im Laufe des Krieges viele eingezogen wurden, ist bekannt. Aber was wissen wir von ihnen? Leider nicht viel, wie unsere Recherchen ergaben.
Schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde wieder eingezogen: Um den »Ehrendienst« in der NVA kamen selbst Spitzenmusiker nur in Ausnahmefällen herum, wie unser Bericht zeigt. »Musiker und Soldaten«, dem Grundthema unseres Titelkomplexes und seinem Spannungsfeld widmete sich der Gewandhaus-Chor 2011 mit dem vielbeachteten Projekt »Schlachtfeld der Seele«, das Bundeswehrangehörigen im Auslandseinsatz eine Stimme gab.
Was ist drei Jahre später davon geblieben? Kann solch ein Konzert gar das Verhältnis zwischen Musikern und Soldaten entkrampfen? Denn die meisten Künstler halten es eher mit Paul Hindemith, der an eine befreundete Familie schrieb: »Überhaupt kann ich mir die wenigsten Musiker als Soldaten vorstellen. Bach als Kammerfeldwebel, das ginge noch an, aber Beethoven, Gewehrgriffe übend, Mozart, Handgranaten werfend; Schubert als Fliegerleutnant und Mendelssohn als Unteroffizier bei einer Fuhrparkkolonne. Das ist doch undenkbar.«

Für uns ist etwas anderes undenkbar: ein Musikmagazin aus Leipzig, in dem der Name Bach nicht vorkommt. Die Literaturkolumne blickt auf den 300. Geburtstag von Carl Philipp Emanuel Bach. Und das Interview führen wir mit Masaaki Suzuki, dessen Gewandhaus-Debüt für uns Anlass ist, den Alte-Musik-Experten eingehend zu den Themen Bach und Leipzig zu befragen. Für den Japaner ist die hiesige Bach-Pflege kein Neuland: Noch zu Zeiten des Eisernen Vorhangs fuhr er als Student nach Leipzig und ersehnte das Ende des offiziellen kulturpolitischen Teils der DDR-Reise, um in der Thomaskirche an Bachs Grab zu stehen.
Suzuki gehört zu einer Generation japanischer Musiker, die im späten 20. Jahrhundert in Westeuropa ausgebildet wurden, in ihre Heimat zurückkehrten und dort das »Orchesterparadies Japan« schufen. Ein Vierteljahrhundert später scheint das bereits wieder Geschichte – und der Blick der Klassikszene richtet sich auf den aus den täglichen Nachrichten kaum noch wegzudenkenden asiatischen Giganten China. Noch fragt sich die westliche Welt nicht wirklich, was es bedeutet, wenn eine kommunistisch regierte »Volksrepublik« die apostrophierte »Zukunft der klassischen Musik« (so Simon Rattle) sein soll.
Stattdessen staunen auch wir ungläubig – mit zwei Blicken in das Reich der Mitte: im Report von der umjubelten China-Tournee des Gewandhausorchesters einerseits wie in der CD-Kolumne, die sich den Spitzenproduktionen »Made in China« widmet, andererseits. Dass das Land als Reservoir der westlichen Kulturszene jene Bedeutung haben könnte, die einst Japan besaß, ist fast schon ein Allgemeinplatz, ist doch die Vielzahl chinesischer Studenten an deutschen Musikhochschulen unüberschaubar. Und wie der Zufall es so will, vermeldet das Gewandhausorchester gerade jetzt mit dem zur neuen Spielzeit engagierten Ersten Solobratscher Yu Sun auch den ersten chinesischen Musiker. Er wird mit Sicherheit nicht der letzte bleiben!

Hagen Kunze