Editorial

Ich bekenne: Ich hatte keine Lust, erneut was zum 9. Oktober 1989 zu machen.

Vor 15 Jahren hatten wir dem zehnjährigen Jubiläum eine spannende Rekonstruktion gewidmet: »Drei Tage im Oktober« hieß unsere Titelgeschichte, und begleitet wurde sie von einem Interview mit Kurt Masur. Zum 20-jährigen Jubiläum brachten wir erneut eine Rekonstruktion: In unserer Titelgeschichte ging es um die »Revolutionskirche« Sankt Nikolai, und wir erzählten von den beiden Musikern, die am denkwürdigen 9. Oktober dort die Orgel gespielt hatten. Was sollten wir jetzt noch Neues, Spannendes zu diesem Thema beitragen können?

Ich sprach mit unserer Autorin Nora Gohlke. Vielleicht sollten wir wenigstens einen kleinen Artikel bringen: Wie war das mit dem »Aufruf der Leipziger sechs«, wo wurde er produziert, wie kam er in den Stadtfunk? Nora Gohlke war sofort Feuer und Flamme und machte sich an die Recherchen. Ich hätte nicht gedacht, dass diese Rekonstruktion so spannend werden würde: Wann, wo und von wem wurde der Aufruf aufgenommen? Gab es mehrere Mitschnitte? Wurde im Rundfunk eine andere Fassung ausgestrahlt als im Stadtfunk? Nora Gohlke ist den Fragen nachgegangen.

Ich fuhr unterdessen an einem heißen, drückend schwülen Julitag in die Uckermark, begleitet von der jungen Fotografin Romy Bank. Unterwegs erfuhr ich einiges von ihr, und ich dachte: »Irre! Du fährst mit einer jungen Frau, die 1989 in Leipzig geboren und die Tochter einer Ukrainerin ist, zu dem Bürgerrechtler Werner Schulz, um mit ihm über den Herbst ’89 zu reden. Wie ich den Russland-Experten und Putin-Kritiker kenne, werden wir ganz sicher auch auf die Ukraine zu sprechen kommen.« Und wir kamen.

Ich hörte erst beim Abtippen der Interviewaufnahme, wie das aufziehende Gewitter die Bäume rauschen machte. Wir saßen im Garten hinter dem Haus, und ich war völlig gefangen von dem, was Werner Schulz erzählte. Ein so substantielles, dichtes, berührendes Gespräch habe ich lange nicht mehr geführt. Man könnte fast meinen, der Oktober 1989 selbst sei dabei ziemlich in den Hintergrund gerückt. Aber nein: Hier ist die Geschichte, die zum Herbst ’89 geführt hat, exemplarisch von ihrem Beginn her erzählt.

Ich bin nicht unfroh, meine Unlust, erneut was zum 9. Oktober 1989 zu machen, in Lust verwandelt zu sehen. Dazu beigetragen hat, dass alle Autorinnen und Autoren dieses Heftes mindestens am Rande auf die Ereignisse von 1989 eingegangen sind – sofern ihr Thema es zuließ. Was bei unserer neuen Kolumne allerdings nicht der Fall war: Die Musikjournalistin Kerstin Sieblist wird künftig des Öfteren »Neulich im Konzert« gewesen sein und mit dem, was ihr dort alles widerfährt, dem zeichnenden Sänger Martin Petzold so manche Steilvorlage liefern. Ich bin lustvoll gespannt.

Claudius Böhm