Andris Nelsons im Gespräch über die Musik von Richard Strauss

Im April und Mai vollendet Andris Nelsons mit dem Leipziger Gewandhausorchester und dem Boston Symphony Orchestra (BSO) die große Werkschau mit Tondichtungen, Opernexzerpten und konzertanten Werken von Richard Strauss. Der Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons spricht mit Ann-Katrin Zimmermann über seinen persönlichen Zugang zu den Kompositionen, über sein Faible für erlesene Düfte und leise Schlüsse, sowie über den besonderen Reiz von Strauss’ Opern-Suiten.

PORTRAITS UND SPIEGELBILDER

Gibt es eine Figur in den Tondichtungen oder Opern von Strauss, die Sie besonders lieben?

AN: Am nächsten ist mir immer der Charakter, den ich gerade musikalisch interpretiere. Wenn ich eine Tondichtung oder Oper von Strauss aufführe, fühle ich mich jeweils genau mit deren Figuren verbunden – seien es Don Juan oder Don Quixote, Ochs oder Marschallin aus dem Rosenkavalier. Außerdem lassen mich die Protagonisten sowohl der Tondichtungen als auch der Opern immer an Richard Strauss selbst denken. Man erkennt den Komponisten in Gestalten wie dem leidenschaftlichen Don Juan, dem Fantasten Don Quixote, dem liebenswürdig-tollpatschigen Ochs und vielen anderen wieder. Besonders deutliche Züge eines Selbstportraits weist das Heldenleben auf. Hier zeigt sich zugleich der verwegene Humor von Strauss, der sich nicht egomanisch als Held idealisiert. Er blickt vielmehr mit erfrischender Ironie und Selbstkritik auf sich, sein Leben und Wirken. In derselben humor- und liebevollen Weise portraitiert er in diesem Werk seine Frau Pauline, und mir scheint, dass Strauss auch in seinen Opern immer irgendeine Figur mit ihr in Verbindung brachte. Sie hatte großen Einfluss nicht nur auf sein Privatleben, sondern auch auf sein Schaffen. In allen Turbulenzen seiner Laufbahn stand sie ihm zur Seite. Nur acht Monate nach seinem Tod starb Pauline, und vermutlich hätte auch Richard ohne seine Frau nicht leben können. So spannungsvoll die Ehe gewesen sein mag: Sie brauchten einander. Die Familie war für Strauss ein Ort intimer Verbundenheit, ein Fixpunkt in seinem bewegten Leben. Hier fand der Vielbeschäftigte zwischen all den Reisen die nötige Geborgenheit und das ideale Umfeld für sein Schaffen. Die Sinfonia Domestica, eine liebevolle Hommage an den ganz gewöhnlichen Tagesablauf der Familie Strauss, war ihm ein Herzensanliegen. Manche belächeln den unmittelbar alltagsbezogenen Realismus. Doch mich fasziniert, mit welch hohem künstlerischem Anspruch, mit wieviel Akribie und Ernsthaftigkeit sich Strauss diesem Sujet zuwendet.

INSPIRATION, NICHT ILLUSTRATION

Lässt Strauss’ suggestive Musik genug Freiraum für unsere eigene Fantasie? Findet man auch Zugang, wenn man sich weder für sein Privatleben interessiert, noch Don Juan, Don Quixote oder Nietzsche gelesen hat?

AN: Unbedingt! Suchen wir nicht in Büchern, Museen und in der Musik vor allem nach uns selbst? So eng die Kompositionen mit ihren Stoffen verbunden sein mögen: Strauss wahrt ästhetische Distanz. Wir Interpreten fragen uns zwar in jedem Moment, auf welche Weise die Musik mit dem in Verbindung steht, was erzählt wird. Was meint Strauss ganz genau mit bestimmten musikalischen Wendungen? Doch für Strauss gilt dasselbe, wie für viele seiner Kollegen: Auf allzu präzise Auskünfte, was die Musik bedeutet, lassen sie sich nicht festnageln und bleiben absichtlich vage. Das konkrete Sujet ist nur der Ausgangspunkt für eine Reise zu den großen Daseinsfragen. Strauss lässt sich von Sujets inspirieren, aber er illustriert sie nicht. Ich respektiere diese Distanz und spüre vielmehr den Stimmungen und der Atmosphäre seiner Tondichtungen nach. Natürlich lässt sich beispielsweise Macbeth nicht losgelöst von Shakespeares Tragödie denken. Aber wie bei allen genialen Kunstwerken gibt es einen Überschuss an kreativer Fantasie. Die größten Wunder der Musik bleiben unerklärlich.

DIE HOHE KUNST LEISER SCHLÜSSE

Ob Strauss deshalb so viele Werke mystisch leise, mit einem Fragezeichen enden lässt?

AN: Überraschend viele der gewaltigen Tondichtungen vom Don Juan über Zarathustra, Heldenleben und Don Quixote bis hin zur Alpensinfonie münden in Momente der Stille. Sein Vater Franz Strauss – ein legendärer Hornist – hat sich darüber gewundert und seinem Sohn zu lauten, effektvollen Schlusstakten geraten, nach denen das Publikum in tosenden Applaus ausbricht. Doch auf unmittelbar aufbrandenden Beifall, auf den »Bravo«-Effekt fulminanter Schlüsse war Richard nicht aus. Vielmehr provoziert er Momente spannungsvoller Stille, in denen die Musik nachwirken kann. Er lässt uns nachdenklich zurück: Was ist da eben passiert? Was haben wir erlebt? Wenn Strauss’ Stimme, die Stimme der Musik verstummt, bekommt unsere innere Stimme für einige kostbare Sekunden die Gelegenheit weiterzureden. Leise Schlüsse sind für uns Interpreten eine große Herausforderung. Das Tempo wird ruhiger, die Lautstärke nimmt ab, doch die Spannung darf niemals einknicken. Wohin führt die Musik? Leiser und langsamer zu werden, ohne Intensität zu verlieren, erfordert hohe Meisterschaft und Musikalität. Von der gewaltigen Kampfszene des Heldenlebens in die leisen Schlusstakte zu führen, ist beispielsweise viel anspruchsvoller – und interessanter! – als Steigerungen und Crescendi, die von selbst Fahrt aufnehmen.

Je älter ich werde, umso mehr ziehen mich die sanften, behutsamen und versonnenen Momente an. Es reizt mich, Zeit in langsamem Tempo zu entfalten und das Verhältnis zwischen Spannung und Entspannung, zwischen Energie und Ruhe auszutarieren. Ständige Steigerung ertragen wir nicht. Die energiegeladenen Anfänge und überwältigenden Höhepunkte verlangen danach, von innigen Schlusszonen aufgefangen zu werden.

Zugleich evozieren diese Schlüsse – vergleichbar der Musik seines Zeitgenossen Mahler – ein Gefühl weltverlorener Einsamkeit: Man lässt alles hinter sich und findet sich plötzlich ganz allein bei sich selbst wieder.

AN: Richard Strauss behauptete von sich, kein religiöser Mensch zu sein. Gleichwohl beschäftigten ihn erste und letzte Dinge. Davon künden längst nicht nur enigmatische Spätwerke wie die Vier letzten Lieder oder die Metamorphosen, sondern letztlich auch alle Opern und Tondichtungen. Derselbe Strauss, der mit Nietzsche sympathisiert und seine Alpensinfonie »Antichrist« nennen wollte, schreibt Musik von himmlischer Schönheit, die nicht von dieser Welt zu kommen scheint. Ich persönlich bin überzeugt, dass in solch atemberaubender Schönheit etwas Spirituelles mitschwingt. Strauss ist eben nicht nur elegant und weltmännisch, sondern auch sensibel und nachdenklich. Manche halten seine Musik für eklektisch und realistisch – doch in Wirklichkeit geht es ihm um Höheres, um das Schöne an sich. Natürlich ist er humorvoll, ironisch und sarkastisch – doch im nächsten Moment ist seine Musik so berührend, dass uns die Tränen kommen. Das ist der wirkliche Strauss, der aus tiefem Herzen und ganzer Seele spricht.

OPERN IM KONZERTSAAL?

Neben den Tondichtungen präsentieren Sie auch Opernauszüge von Richard Strauss im Konzertsaal. Fehlt mit der Bühnenhandlung und dem Gesang nicht Entscheidendes?

AN: Die Opern und sinfonischen Werke von Richard Strauss sind nicht voneinander zu trennen. In seinem musikalischen Denken gehören Opern und Sinfonik unmittelbar zusammen. Man sollte beide Werkgruppen kennen, um sie wirklich zu verstehen. Sowohl die Tondichtungen als auch seine zahlreichen und extrem unterschiedlichen Opern kreisen – bewusst oder unbewusst – um dieselben Themen wie beispielsweise unerfüllte Liebe. Die Musik der Opern ist ihrem Wesen nach so sinfonisch, dass es für Strauss geradezu eine künstlerische Notwendigkeit war, sie zu Orchesterauszügen für den Konzertsaal zu bündeln und sie rein sinfonisch, nur mit den Kräften des Orchesters zu verwirklichen. So sinfonisch die Opern konzipiert sind,
so opernhaft erscheinen die Tondichtungen. Auch in den Orchesterwerken treten starke Charaktere in Erscheinung, die gleichsam singen und agieren – ich erinnere noch einmal an die Solo-Violine des Heldenleben, die Pauline verkörpert. In beiden Werkgruppen übernehmen bestimmte Instrumentalfarben die Funktion von Leitmotiven und charakterisieren Personen und Stimmungen.

DIE ESSENZ

Die Suiten aus seinen Opern und Balletten, die herausgegriffenen Szenen und Walzerfolgen zeugen also nicht einfach nur vom gewieften Geschäftsmann Strauss?

AN: Es wurde viel gelästert über Komponisten wie Richard Strauss und Igor Strawinsky, weil sie ihre Bühnenwerke als Orchestersuiten wiederverwerten. Doch Strauss ging es nicht nur darum, Geld zu verdienen. Wer seine Opern kennt, stellt fest: Die orchestralen Auszüge beinhalten die Essenz! Seine Suiten bündeln Schlüsselmomente, Hauptcharaktere und Stimmungen zum hochkonzentrierten sinfonischen Exzerpt. Wie bei einem kostbaren Parfum. Seit einigen Jahren fasziniert mich die Welt der Parfums. Ich genieße die verschiedenen Düfte und Intensitäten. Bei den Designern geht der Trend zu immer intensiveren Essenzen. Solch eine hochkonzentrierte Essenz der Opern präsentiert uns Strauss in seinen Orchesterauszügen. Jedes sinfonische Exzerpt verströmt den reichen Duft der ganzen Oper.

Düfte können sehr starke Erinnerungen auslösen. Wer mit Strauss’ Opern vertraut ist, dem rufen die Konzertauszüge wunderbare Erinnerungen an liebgewonnene Szenen und Protagonisten wach. Zugleich kommen auch jene Menschen in den Genuss dieser herrlichen Musik, die nicht in die Oper gehen.

Verbinden Sie bestimmte Düfte mit konkreten Werken oder Charakteren? Ich kenne Schauspieler, die für jede Rolle einen neuen Duft auswählen, den sie dann während der ganzen Produktion tragen.

AN: Nein, ich liebe es, viele verschiedene Parfums zu besitzen und ständig zu variieren. Gleichwohl löst manchmal ein Duft die Erinnerung an eine bestimmte Proben- und Konzertphase in mir aus. Oder ich denke bei einer musikalischen Stelle an die Wirkung eines besonderen Dufts. Den energiestrotzenden Beginn des Don Juan, den ich bei meinem Debüt mit dem Gewandhausorchester dirigierte, assoziiere ich beispielsweise mit einem Schuss Bergamotte. Ein Übermaß an Energie entlädt sich in diesen überschwänglich-feurigen Anfangstakten – und man fragt sich sofort: Warum ist jemand so übertrieben passioniert, fast wie unter Drogen, dass er sogar in der falschen Tonart losstürmt. Tatsächlich findet Don Juan in der Tondichtung ein tragisches Ende...

Strauss brachte in seinen Partituren alles überdeutlich zum Ausdruck. Bisweilen ist es schwierig, die Balance zu halten, sich nicht selbst verführen zu lassen und über das Ziel hinauszuschießen. Die Musik von Strauss ist entwaffnend ehrlich und nie manieriert. Mit untrüglichem Sinn für Schönheit und klangliche Reichtümer des Orchesters zeigt er Glanzpunkte und Abgründe des menschlichen Daseins. Wir Interpreten sollten nicht so tun, als stünden wir distanziert über den Dingen, sondern ebenso aufrichtig sein wie der Komponist und Dirigent Richard Strauss. - Das Interview führte Ann-Katrin Zimmermann

Große Concerte, 07./08. APR

Große Concerte, 05./06. MAI


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