Die 9. Sinfonie in der Gewandhausorchestergeschichte

Die Wiener Uraufführung vom 7. Mai 1824 lag keine zwei Jahre zurück, der Komponist war noch am Leben und das Werk war noch nicht im Druck erschienen – da wagte man in Leipzig die erste Aufführung der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven. Nur drei Städte – London, Frankfurt und Aachen – waren schneller gewesen und hatten 1825 Aufführungen der Neunten realisiert. Dem Leipziger Konzert am 6. März 1826 folgten im selben Jahr Premieren in Bremen und Berlin, andere »Musikstädte« zogen erst deutlich später nach (z.B. Paris 1831).

Das denkwürdige Leipziger Erstaufführungskonzert »zum Besten des Institut-Fonds für alte und kranke Musiker und deren Witwen im Saal des Gewandhauses« brachte noch eine weitere Beethoven-Novität: Eröffnet wurde es mit der Ouvertüre Die Weihe des Hauses op. 124. Es folgte – in typischer vokal-instrumentaler Abwechslung – eine Szene mit Arie von Victor Rifaut und ein Horn-Concertino Carl Maria von Webers, das der legendäre Gewandhaus-Posaunist und -Bratscher Carl Traugott Queisser auf der Posaune vortrug. Den zweiten Teil bildete die »Grosse Symphonie mit Chören, über Schillers Lied an die Freude (Neu.)« Der Programmzettel dokumentiert eine Variante der ersten Textzeilen, die Beethoven selbst dem Bass hinzudichtete. Anstelle des heute üblichen O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere! erklang bei den frühen Leipziger Darbietungen Verscheucht diese Töne, ihr Freunde, ihr Brüder! Freude, hohe, allgewaltige, erscheine! Dir schalle unser Hochgesang!

Noch im selben Monat, am 30. März 1826, wurde die Neunte im 22. Abonnementkonzert »auf Verlangen« wiederholt, und binnen Jahresfrist folgte eine dritte Aufführung – allerdings ohne den nach wie vor als Zumutung empfundenen Schlusssatz. Erst jetzt berichtete die »Allgemeine Musikalische Zeitung« – mit merklichem Unbehagen. Der Rezensent – Gewandhauschronist Dörffel zufolge Gottfried Wilhelm Fink – windet sich, vertröstet den Leser zweimal auf »weiter unten« und »bald hernach«, bevor er endlich auf Beethovens 9. Sinfonie zu sprechen kommt. Für das zeitgenössische Publikum dürfte die Mischung aus Beethoven-Verehrung und unverblümtem Unverständnis durchaus repräsentativ sein: Also auf die Gefahr hin, als gehörten wir zu denen, die Grosses zu fassen nicht im Stande sind, bekennen wir unverholen: Sie gefällt uns nicht. [...] Es ist als ob die Geister der Tiefe ein Fest des Hohnes über Alles, was Menschenfreude heißt, feyerten. Riesenstark tritt die gefährliche Schaar auf und zerreist das menschliche Herz und zergraust den Götterfunken mit wildlärmendem ungeheuerm Spott. – Dennoch muss jeder Musiker das Werk besitzen, um zu lesen, wie sie sich da unten verlustigen in der entsetzlichen Tiefe. Der Meister bleibt, was er ist, ein Geisterbeschwörer, dem es diesesmal gefallen hat, Uebermenschliches von uns zu verlangen. Da unterschreib’ ich nicht.

Die von Adolph Bernhard Marx herausgegebene Berliner »Allgemeine Musikalische Zeitung« hatte bereits am 28. Juni 1826 (mit Fortsetzungen am 5. Juli und 12. Juli) berichtet, war aber zu einem ähnlichen Fazit gelangt. Der Rezensent schreibt die ungünstige Wirkung dem »Egoismus« – Eigensinn – des Komponisten zu, der zwar im Falle des »Giganten« Beethovens »mit prometheischer Kühnheit« einhergeht, das Publikum jedoch rücksichtslos übergeht. Sollte ich von dem Eindruck sprechen, den diese Symphonie auf unser musikalisches, und wie gesagt für Beethovens Symphonien vorzüglich gebildetes Publikum gemacht hat, so könnte ich nicht anders berichten, als daß er im Allgemeinen ungünstig ausgefallen, und daß er die Meisten, die nicht ungebildete Zuhörer, vielmehr rüstige Freunde der Musik sind, und Beethovens frühern Werken mit großer Theilnahme sich hingegeben haben, ihres Glaubens an die fernern Produktionen des Meisters beraubt hat. Aus Respekt vor Beethoven relativiert der Autor seine Einschätzung sogleich: Man sei oft überfordert durch allzu kühne neue Werke, und die diagnostizierten Mängel könnten durch Fehler der Ausgaben oder durch zu hohe Ansprüche an die Musizierenden zustande gekommen sein. Letzteres ist sicher richtig. Erst nach und nach gelangen musikalisch überzeugende Aufführungen des gewaltig schweren Werkes und erste Erfolge beim Publikum belohnten die Beharrlichkeit der Musiker.

Bis 1828 hatte sich an der skeptischen Haltung gegenüber der Neunten noch nichts geändert und die Gewandhaus-Aufführung am 13. März erntete immer noch Unverständnis: Wir wissen unsern Beethoven für den zu erkennen, der er ist; wir fühlen uns oft von ihm gehoben, ja begeistert: was aber diese letzte seiner Symphonieen, die aus D moll, anlangt, so gestehen wir ganz offen, dass wir nicht zu denen gehören, die davon entzückt wurden. Im Gegentheil halten wir das ganze Werk für eine höchst merkwürdige Verirrung des durch seine gänzliche Gehörlosigkeit unglücklich gewordenen, nun erlöseten Mannes. Erst unmittelbar vor der Amtsübernahme durch Felix Mendelssohn Bartholdy zeichnete sich eine positivere Bewertung ab, als die gemeinschaftlich vom Konzertmeister Heinrich August Matthäi (1., 2. und 3. Satz) und Kapellmeister August Pohlenz (Finale) geleitete Darbietung vom 3. April zwar nicht euphorisch, doch durchaus anerkennend gelobt wurde.

Als bevorzugter Termin für die regelmäßigen Aufführungen hatte sich mittlerweile der Zeitraum von März bis Anfang April, also das Ende der Spielzeit, etabliert. Dass die Aufführungen auf diese Weise oft in der Nähe des Orchestergeburtstags (11. März), des Erstaufführungstermins (6. März) und des Todestages von Ludwig van Beethoven (26. März) lagen, war ein sicherlich nicht unerwünschter Nebeneffekt. Bei runden Jubiläen dieser Ereignisse wurde die Aufführung der Neunten immer wieder daran gekoppelt. In Mendelssohns Amtszeit fiel beispielsweise der 100. Orchestergeburtstag, der am 9. März 1843 u.a. mit diesem Werk begangen wurde. Grundsätzlich stand die Neunte am Ende des Konzerts.

Ann-Katrin Zimmermann


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