Editorial

9. März 2013: An zwei Seiten des Leipziger Augustusplatzes findet »Weltuntergang« statt. Im Opernhaus an der Nordseite stimmt der Opernchor auf den Untergang der Stadt Mahagonny ein: »Wir brauchen keinen Hurrikan, / wir brauchen keinen Taifun, / denn was er an Schrecken tuen kann, / das können wir selber tun.« Im Konzerthaus an der Südseite des Platzes singt der Gewandhaus-Chor zu gleicher Zeit: »Welt Ade, Welt Ade zu guter Nacht«. Katharina Thalbach rezitiert dazu Texte aus der biblischen Apokalypse und aus den Centurien des Nostradamus.

9. März 1930: In Leipzigs Neuem Theater wird die Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« uraufgeführt. NSDAP-Anhänger sorgen für Tumulte im Zuschauerraum – und bald darauf für den Untergang ganzer Völker, Städte, Länder, Welten.

9. März 1842: An der Mailänder Scala hat die Oper »Nabucco« Weltpremiere und gerät zu Giuseppe Verdis erstem großen Erfolg. An Leipzigs Stadttheater, wo man das Stück erst 13 Jahre später zu sehen bekommen wird, könnten die 20 Sänger und 16 Sängerinnen des Chores derweil ein Jubiläum vorbereiten: Seit 25 Jahren gibt es einen festen Theaterchor in der Messestadt. Allein, diese Geschichte ist den Damen und Herren nicht bewusst. – 171 Jahre später hat Dietrich Hilsdorfs Neuinszenierung von »Nabucco« an Leipzigs Oper Premiere. Den 70-köpfigen Opernchor verstärken Gastsängerinnen und -sänger. Die eigene Ensemblegeschichte ist den heutigen Chormitgliedern ebenfalls kaum bewusst. Wie auch: Es gibt keine erhellende Literatur, keine geschlossene Darstellung, keine wissenschaftliche Arbeit zur bald 200-jährigen Chorhistorie. Unsere Titelstory beackert Neuland.

9. März 1697: In der Peter-Paul-Kirche im vogtländischen Reichenbach wird ein Neugeborenes auf die Namen Friederike Caroline getauft. 43 Jahre darauf – aus dem Täufling ist eine Schauspielerin und maßgebliche Theaterprinzipalin geworden – verabschiedet sich die »Neuberin« enttäuscht vom Hamburger Publikum: »Von der Schauspielkunst habt ihr sehr wenig Licht, / weils euch an Zärtlichkeit, Natur und Kunst gebricht.« Der Magistrat reagiert mit der vollen Härte des Beleidigten: Frau Neuber darf die Hansestadt nie wieder betreten. – 273 Jahre später nimmt man in Leipzig enttäuscht voneinander Abschied: Sebastian Hartmann verlässt das Schauspiel. Wenige Monate vor ihm ging bereits ein anderer Theatermann: Peter Konwitschny. Die Oper, wo er Chefregisseur war, plakatierte zu gleicher Zeit: »Licht an!« Offenbar lieben Leipzigs städtische Theater Zwei-Wörter-Botschaften: Hartmanns Amtsantritt begleitete der Slogan »Ende / Neu«. Auch wenn es damals nicht so gemeint gewesen sein mag: Lakonischer lässt sich die Apokalypse wohl kaum zusammenfassen.

Claudius Böhm