Ungelogen: Wir treffen uns mit Katharina Thalbach ausgerechnet am 21. Dezember 2012 in der Komödie am Kurfürstendamm – am Tag des Weltuntergangs. Wie passend. Denn es ist die »Apokalypse« des Gewandhaus-Chores, die uns nach Berlin zu der begnadeten Schauspielerin und Regisseurin führt. Zunächst jedoch müssen wir ein biographisches Detail klären:
Frau Thalbach, Sie kommen nach Leipzig in ein Haus, wo einer Ihrer Vorfahren Orchestermitglied war.
Katharina Thalbach: Meinen Sie Joseph Joachim?
Ja. Wussten Sie, dass er für zwei Jahre dem Gewandhausorchester angehört hat?
Thalbach: Nein. Aber es ist schön, das zu erfahren.
Wären die Leipziger damals vigilanter gewesen, hätten sie ihn halten können. Aber sie scheuten sich wohl, einen 17-Jährigen als Konzertmeister anzustellen. Wären Sie ansonsten womöglich in Leipzig geboren worden?
Thalbach: Na gut, er war ein Cousin meines Urgroßvaters. Insofern hat sein Lebensweg nicht direkt auf meinen eingewirkt.
War Ihr Urgroßvater auch Musiker?
Thalbach: Ja. Er hieß Alois Joachim, war Hofopernsänger in München und bekam vom verrückten Ludwig II. einen Titel verliehen. Seitdem tragen alle seine Nachkommen den Namen »Joachim genannt Thalbach«. So heißen auch meine Tochter Anna Joachim genannt Thalbach und meine Enkelin Nelly Joachim genannt Thalbach. Das ist manchmal lästig bei Ämtern, weil die nie wissen, ob wir unter J oder unter T geführt werden. Aber ich wollte diesen Namen nicht aufgeben, weil ich ihn immer schön fand. Ich bin ja auch stolz darauf.
Joseph Joachim spielt in der Gewandhausgeschichte eine wichtige Rolle. Er war sehr oft in Leipzig, hat dort auch Johannes Brahms’ Violinkonzert uraufgeführt.
Thalbach: Ich freue mich immer, wenn ich eine Oper inszeniere, bei der ersten Orchesterprobe diese Verwandtschaft erwähnen zu dürfen. Da habe ich gleich Freunde im Orchester.
Joseph Joachim war jüdischer Abstammung. Sein Name stand in dem berüchtigten, von der NSDAP herausgegebenen »Lexikon der Juden in der Musik«. Welche Rolle spielte das in Ihrer Familie?
Thalbach: Das weiß ich nicht genau. Es war auf alle Fälle ein heikles Thema. Mein Großvater hat die Verwandtschaft mit Joachim verheimlicht und sehr gekämpft, als »Arier« zu gelten. Und er ist damit durchgekommen.
Ihr Mann Thomas Brasch stammte ebenfalls aus einer deutsch-jüdischen Familie.
Thalbach: Seine Eltern sind vor den Nazis nach England ins Exil geflohen. Dort ist er dann geboren worden.
Die Judenverfolgung durch die Nazis genauso wie der von ihnen geführte Zweite Weltkrieg brachte vielen Menschen den dramatischen Untergang ihrer eigenen Welt. Was verbindet sich für Sie mit dem Wort »Weltuntergang«?
Thalbach: Da denke ich zuerst an die »Apokalypse« in der Bibel – und daran, wie ich meinen ersten Atlas geschenkt bekam und mir erklärt wurde, dass die Welt irgendwann verglühen würde. Das fand ich erschreckend.
Sie nennen die Bibel. Welche Rolle spielt der christliche Glaube in Ihrer Biographie?
Thalbach: Er spielt eine relativ große Rolle, besonders für meine Kindheit und Jugend. Ich bin evangelisch getauft und gehörte zu den Kindern, die nicht Jungpioniere wurden, sondern in die Kirche gingen. Ich wollte aber dazu gehören und habe meine Mutter genervt. So ließ sie mich dann doch zu den Jungen Pionieren gehen. Aber das war keine ideologische Frage. Nach dem frühen Tod meiner Mutter hat sich das geändert. Da hat mir die Kirche sehr geholfen und viel Trost gegeben. Ich gehörte dann wiederum zu denjenigen, die nicht zur Jugendweihe gingen, und war die Einzige in der Klasse, die nicht in die FDJ eintrat. Stattdessen habe ich mich konfirmieren lassen – und daraufhin sehr viel Ärger bekommen.
Trotzdem durften Sie Abitur machen?
Thalbach: Ich bin erst für die Erweiterte Oberschule abgelehnt worden, obwohl ich immer eine sehr gute Schülerin war. Da hat mein Vater, er war in der SED, heftig interveniert. So kam ich trotz mehrerer Gespräche, wo man mich erfolglos zu überzeugen versucht hat, letztlich doch auf die EOS. Allerdings bin ich aus dem »Grauen Kloster« gleich wieder rausgeflogen, unter anderem weil ich wegen des »Prager Frühlings« zu viel gefragt hatte, und musste dann auf die Max-Planck-Schule gehen.
Graues Kloster, was war das?Thalbach: So nannten wir immer noch die EOS in Berlin-Mitte. Die war vormals ein evangelisches Gymnasium und zu DDR-Zeiten die einzige Schule in Ostberlin, in der es altsprachlichen Unterricht gab.
Sie haben kürzlich in der »Zeit« geoffenbart, Sie hätten gern Geschichte studiert. Nur das Mittelalter hätten Sie immer gehasst?
Thalbach: Das Mittelalter war lange Zeit ein dunkler Fleck für mich. Ich konnte einfach nicht begreifen, wie nach einer so hoch entwickelten Kultur wie der des Römischen Reiches alles mehr oder weniger versandete. Da habe ich mich lieber mit Ägypten, später mit der Französischen Revolution und mit Shakespeare beschäftigt. Kurioserweise fange ich jetzt gerade an, mich intensiver mit dem Mittelalter zu befassen.
Heutige Weltuntergangsprophetien berufen sich oft auf Nostradamus. Der lebte in einer Zeit der Umbrüche zwischen Mittelalter und Neuzeit. Wir leben ebenfalls in einer Zeit der Umbrüche und zugleich eines Weltuntergangs auf Raten: Klimawandel, Kriege, Hungersnöte – überall kriselt es. Davon wollen viele jedoch nichts wissen. Wie ergeht es Ihnen damit?
Thalbach: Wenn man sich ernsthaft damit beschäftigt, was auf der Welt alles los ist, dann ist man nur noch von Ängsten besetzt. Deshalb verdrängen das viele, und ich glaube, ich gehöre auch zu den Verdrängern. Schon weil man manchmal so verloren ist, wenn man fragt: »Was kann ich tun?« Wenn man zum Beispiel sieht, wodurch die Klimaveränderung hervorgerufen wird – was kann man dagegen tun, so lange es die Gier nach Macht und Geld gibt? Da rollt sich dieses brutale System unweigerlich selbst in den Abgrund.
Dem könnte »das Theater als moralische Anstalt« im Sinne Schillers gegenübertreten. Wie gehen Sie mit diesem Anspruch um, wenn Sie inszenieren?
Thalbach: Diesen Anspruch muss ich anderen überlassen, dafür bin ich nicht geeignet. Ich bin da eher auf Umberto Ecos Seite: Ich halte sehr viel von der Katharsis durch Lachen und nicht unbedingt durch Leiden.
Aber Katharsis muss sein?
Thalbach: Katharsis muss immer sein. Ich glaube krampfhaft an Utopien. Daran, dass ein Leben lebenswert ist. Wo etwas mit Musik zu tun hat, hat es immer mit einer Utopie zu tun. Reine Schauspielabende, wo mir vor Augen geführt wird, wie furchtbar alles ist, und ich mich danach am liebsten aufhängen möchte, schätze ich nicht so sehr. Ich habe immer gern ein kleines Fünkchen Utopie dabei.
Dann gefällt Ihnen sicher auch, dass die biblische Apokalypse im Grunde eine Heilsprophetie ist? »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen ...«
Thalbach: So ist es beim Maya-Kalender ja auch: Da geht die Welt nicht unter, sondern es endet nur ein Zyklus und fängt etwas Neues an. Natürlich gefällt mir das. Immer wenn etwas Neues anfängt, ist das eine Utopie. Das war selbst die Stunde null in Deutschland. Meine Mutter hat mir immer erzählt: Sie waren jung, sie hatten das Grauen überlebt, sie hatten, obwohl sie in Trümmern hausten, einen Heißhunger nach Leben, und sie wollten eine bessere Gesellschaft aufbauen. Also: Ich will daran glauben, dass jedes Ende immer auch eine Chance ist.
In welchen Opern finden Sie die stärksten Utopien?
Thalbach: In allen von Mozart. Eine Vision ist bei ihm immer da. Selbst im Requiem.
Sie haben in den vergangenen 15 Jahren in fast jedem Jahr eine Oper inszeniert. Was kommt im Wagner-Jahr 2013?
Thalbach: Nichts.
Sind Sie gefragt worden, ob Sie eine Wagner-Oper inszenieren würden?
Thalbach: Nein, noch nie.
Und wenn?
Thalbach: Die einzige Wagner-Oper, die ich sehr gern machen würde, wäre »Der fliegende Holländer«. Die finde ich richtig gut. Und sie ist etwas kürzer als andere Stücke von ihm. Die Länge ist mein Problem mit Wagner: Ich fühle mich manchmal vergewaltigt.
Seit 1997 haben Sie zwölf Opern inszeniert, wobei der Anfang mit »Don Giovanni« in Berlin eher zufällig zustande kam. Ist Opernregie inzwischen Ihr zweites Standbein?
Thalbach: Ich wünschte, es wäre so. Das hängt immer von Angeboten ab. Ich hoffe, weiter Oper machen zu können, weil ich das als eine enorme Bereicherung empfinde. Die Musik gibt einem auch ein Korsett. Ich gehöre nicht zu den sogenannten innovativen Regisseuren, sondern versuche, mit meiner Phantasie ein Werk zu entdecken und ihm zu folgen. Dann merke ich immer, wie das Werk mich trägt, wie die Musik gleichsam zu einer Wiege wird. Im Schauspiel dagegen muss man sich das sehr schwer erarbeiten. Dort muss man sich eine eigene Musik schaffen, nämlich die Musik der Sprache, und darin selbst die Tempi und die Pausen bestimmen. Das ist wesentlich anstrengender und schwieriger als im Musiktheater. Ich finde Oper leichter als Schauspiel.
Manche Regisseure empfinden das Musik-Korsett als einengend. Sie nicht?
Thalbach: Ich empfinde es nicht als einengend. Ich spiele auch gern im Korsett. Es gibt einem eine gute Haltung. Und das finde ich angenehm. Genauso habe ich es immer als etwas Angenehmes empfunden, dass die Musik Zeiten und Strukturen in der Oper festlegt. Aber wenn man sich dagegen wehrt und schlauer sein will als der Komponist, wird es schwierig. Dann bekommt man Probleme.
Wie wurde Ihr »Don Giovanni« 1997 in Berlin gesungen: italienisch oder deutsch?
Thalbach: Gemischt. Die hochherrschaftlichen Personen haben italienisch gesungen, das niedere Volk deutsch und Leporello beides.
Welche Erfahrungen haben Sie in den 15 Jahren Opernregie mit Inszenierungen in Originalsprache gemacht?
Thalbach: Das ist für mich ein zwiespältiges Thema. Italienisch ist eine so musikalische Sprache, dass ich hier die Beibehaltung der Originalsprache noch am ehesten verstehen kann. Aber wenn es zum Beispiel um eine tschechische Oper von Leoš Janáček geht und argumentiert wird, er hätte die Musik so auf die Sprache hin komponiert, dass sie unbedingt auf Tschechisch gesungen werden müsse, dann muss ich einfach entgegen: »Arbeiten Sie mal mit Sängern, die kein Tschechisch sprechen.« Da hat man Glück, wenn sie ihren eigenen Text verstehen. An dialogische Situationen ist da gar nicht zu denken. »Das schlaue Füchslein« habe ich zweimal gemacht: in Berlin auf Deutsch und in Zürich als Modellinszenierung auf Tschechisch. Die Hauptdarstellerin in Zürich war eine wunderbare tschechische Sängerin. Natürlich klang das bei ihr sehr gut. Aber der arme Schweizer Bariton, der den Förster gesungen hat: Der klebte nur am Souffleurkasten, und selbst dann noch ist er mit der Sprache und ihren Zischlauten nicht klargekommen.
Was aber nützt eine Aufführung auf Deutsch, wenn man Sänger hat, die nicht deutlich artikulieren oder die deutsche Sprache gar nicht beherrschen?
Thalbach: Der Opernbetrieb hat sich durch die Internationalisierung sehr geändert. Wenn einer heute in Paris und morgen die gleiche Rolle in Köln singt, vielleicht sogar als Einspringer, dann geht das natürlich gar nicht anders als in der Originalsprache. Aber ich komme halt von woanders her: In Ostberlin bin ich irrsinnig viel in die Oper gegangen. Und da wurde alles deutsch gesungen, in der Staatsoper genauso wie in der Komischen Oper.
Manche Sänger, heißt es, hätten wenig Verständnis für Musiktheater und wollten einfach nur an der Rampe stehen und singen. Können Sie das bestätigen?
Thalbach: Meine Erfahrungen sind das totale Gegenteil. Bis auf ganz wenige Ausnahmen habe ich das Glück gehabt, mit Sängern arbeiten zu dürfen, die eine Wahnsinnsspielfreude hatten und neugierig darauf waren, Gesang und Spiel miteinander zu verbinden. Da ist es manchmal mit Schauspielern schwieriger.
Sie haben 2011 in Berlin die »Zauberflöte« als Open Air inszeniert – ein Massenspektakel unter schwierigsten Bedingungen. Würden Sie es noch einmal machen?
Thalbach: Nein. Es war ein tolles Team. Doch es gab zu viele Probleme, ständig Änderungen und so weiter. Am Ende war es sicher wunderschön und war ich mit diesem halb improvisierten Abend sehr zufrieden. Ich dachte mir, vielleicht war es so sogar viel schöner, als wenn alles festgeklopft gewesen wäre. Aber ich weiß auch, die Erinnerung ist bestechlich. War es am Ende ein Erfolg, ist man im Nachhinein bereit, vieles zu vergessen.
Was muss man können, um Oper zu inszenieren?
Thalbach: Das weiß ich nicht. Es gibt sicher viele, die sagen, dass man es als Nichtstudierter in diesem Metier schwer hat. Und wirklich muss ich mir eine Partitur wahnsinnig schwer erarbeiten, weil ich keine Noten lesen kann. Es dauert lange, bis die Partiturseiten in irgendeiner Weise sinnlich für mich werden. Ich kann sie leider nicht lesen wie ein Buch. Deshalb muss ich mir das Ganze mit jemandem erarbeiten, der das kann – am liebsten mit dem jeweiligen Dirigenten. Wo muss ich auf Wiederholungen achten, wo tauchen die Themen erneut auf, wo sind Generalpausen ... Ich finde es enorm wichtig, dass die Musik für mich wie ein offenes Buch wird.
Haben Sie als Kind ein Musikinstrument gelernt?
Thalbach: Nein, leider nicht. Meine Mutter war nicht streng genug, mich zu regelmäßigem Üben anzuhalten.
Welchen Rang haben in der Oper Musik und Szene? Sind sie gleichberechtigt, oder muss sich alles zuerst nach der Musik richten?
Thalbach: Für mich hat eindeutig die Musik den Vorrang.
Aber das heißt nicht, dass die szenische Darstellung nur auf ein Rampentheater hinausläuft?
Thalbach: Nein. Genau das ist die Aufgabe, die man als Regisseur mit Demut erfüllen muss. Da gibt es die Musik, und da muss man schauen, wie man seine Lücken findet. Allerdings fügt sich das bei der Oper manchmal so zwingend, dass man sich sagt: »Ja klar, logisch!« Das hat bisweilen sogar etwas Mathematisches. Und das mag ich, weil ich auch Naturwissenschaften mag.
Interview: Claudius Böhm und Hagen Kunze