Theater in Leipzig

2008 kamen Peter Konwitschny und Sebastian Hartmann nach Leipzig. Der eine als Chefregisseur an die Oper, der andere als Intendant ans Schauspiel. Es wurden zwei kurze Ären: Konwitschnys endete abrupt 2011, Hartmanns geht in diesem Sommer zu Ende. Stefan Petraschewsky richtet sieben Schlaglichter zurück.

I   Man mag sich an DDR- oder Lortzings Zeiten erinnern, als es noch eine Zensur auf dem Theater gab, und sich heutzutage über die Freiheit der Kunst freuen; man mag die Inszenierung von Wagners »Fliegendem Holländer«, die Michael von zur Mühlen im Oktober 2008 auf die Bühne der Leipziger Oper brachte, unangemessen und pubertär in ihrer Aussage finden (eine Ansicht, die der Autor teilt), aber die Reaktion auf diese Premiere ist dann doch erschreckend. Sie zeigt, wie dünn der Firnis von Kultur und Zivilisation über der seit ein, zwei Generationen erst vernarbten Haut aufgetragen ist. Da wird in Leserbriefen der Leipziger Volkszeitung etwa von einem »ekelhaften Machwerk« gesprochen, das vermeintlich »den strafrechtlichen Tatbestand des Betruges« erfülle; da ruft der hiesige Wagner-Verband dazu auf, »als Heilung der entwürdigenden aktuellen Respektlosigkeit gegenüber der Person und dem Werk des Komponisten die Oper in ›Richard-Wagner-Oper Leipzig‹ zu benennen« – schon die Grammatik ist hier ein Graus. Aber damit nicht genug, fordern die Wagner-Verbände der neuen Bundesländer und Berlins in einer »Leipziger Erklärung« dazu auf, »ein verstärktes Augenmerk auf die Verantwortung der Intendanzen gegenüber dem Werk Richard Wagners und der Interpretation durch die Regisseure zu legen«. Theater als Museum; Werktreue über alles.

II   Die Personalien Konwitschny und Hartmann sind von Anfang an umstritten: bei Hartmann mehr, weil er von vielen als Castorf-Epigone abgetan wird; bei Konwitschny zunächst weniger. Erst dessen Spielplanpolitik, besonders die Absage an einen Leipziger »Ring« im Wagner-Jahr 2013 zugunsten eines Gluck-»Ringes«, bringt ihn in die Kritik. Dabei wäre Konwitschny wohl der einzige legitime Nachfolger Joachim Herz’ gewesen, der in den frühen 70er Jahren die dem »Ring« immanente Kapitalismuskritik erstmalig auf die Bühne brachte. Konwitschnys Münchner »Parsifal« und seine Stuttgarter »Götterdämmerung« deuten darauf hin, dass sein Leipziger »Ring« die patriarchalen Strukturen offengelegt hätte, unter denen nicht nur Rheintöchter, Nornen, Erdgöttinnen und schließlich Brünnhilde leiden, sondern die ganze Welt bis heute. Diese Absage an einen »Ring« war Konwitschnys größter Fehler, den er in Leipzig gemacht hat. Die Stadt hätte ihm zu Füßen gelegen! Auch deshalb werden die folgenden Jahre für die Oper eine Zeit der Skandale und Skandälchen. Die Stadt ist sauer und echauffiert sich über ein Opernplakat, das eine breitbeinig dasitzende und barbusige Carmen zeigt, die den Betrachter mit großen Kinderaugen anstarrt. So sieht doch keine Carmen aus!, lautet der Vorwurf, weil Helmut Brade, ehemals Professor für Kommunikationsdesign an der Burg Giebichenstein in Halle, das Klischee im Sinne der Inszenierung nicht bedienen will. Da geht es nämlich um üblen Kinderschmuggel. Aber das Publikum ist nicht mehr gewillt oder in der Lage dazu, Botschaften jenseits der Klischees zu dechiffrieren.

III   Ebenso verärgert zeigt sich die Stadt auch wegen des ersten Plakats aus Hartmanns Haus. Es zeigt eine Dinosaurierlandschaft mit der Überschrift »Ende Neu«. Wer sind die Dinosaurier? Meinen sie ein Stadttheater, das dem »Guten, Wahren, Schönen« huldigen will? Wird nun, wie man aus der Erdgeschichte weiß, ein Hartmannscher Meteorit einschlagen? Und was kommt dann: schlimmstes Regietheater? Spätestens nach seiner ersten Premiere, die Hartmann als Hommage an die Bach-Stadt »Matthäuspassion« überschrieben hat, ist diese Regietheaterdiskussion in vollem Gange, weil Schauspieler sich nackt ausziehen und mit Eimern voll Blut hantieren. Der Kraterrand scheint unüberwindbar. Dabei macht der eine Sebastian in seinem ersten Jahr als Intendant nichts anderes als der andere Johann Sebastian in seinem ersten Jahr als Thomaskantor, als er seinem Publikum mit der Kantate »Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen« die Zerrissenheit eines Menschen vorstellt: der das Gute, das er will, nicht tut, sondern das Böse, das er nicht will. So steht es im Römerbrief, Kapitel 7, Vers 19, der der Kantate zugrunde liegt. Dieser Widerspruch wird jedenfalls ein zentrales Thema Hartmanns sein, und man könnte ihn deswegen einen Bach des Schauspiels nennen. Man tut es nicht. Vielleicht ist es auch zu sehr Hartmanns Thema, das in den Folgejahren immer wieder in neuer Kulisse durchdekliniert wird. Das Publikum fordert mehr Abwechslung und andere Regiehandschriften. Sogenannte Zuschauerkonferenzen, die Hartmann ins Programm nimmt, um dem Publikum Raum für seine Kritik zu geben, helfen wenig. Es wird ein bisschen nachjustiert: Sebastian Hartmann inszeniert Komödie; Rainald Grebe macht weiter seine jährliche Show. Ein wohlsortierter Gemischtwarenladen wird die Sache dennoch nicht. Auch nicht in der Oper. Und so pflegt man in der Stadt liebgewonnene Vorurteile und zeigt sich insgesamt wenig neugierig auf einen – zumindest von der Kulturpolitik so kalkulierten – Kunst- und Imagegewinn für das Musik- und Sprechtheater der Stadt. Es war eine Fehlkalkulation im doppelten Sinne. Auch der Stadtrat trägt die Entscheidung immer weniger mit. Paradox mutet es an, wenn das Drei-Sterne-Menü auf dem Teller keiner bestellt haben will. Der Koch hat seine Schuldigkeit getan. Und soll nun gehen?

IV   Leipzig ist eine Kulturstadt! Die Leipziger Volkszeitung bringt ihren Kulturteil noch vor den Lokal- und Sportseiten. Das will was heißen. Es ist Tradition, zur Schauspiel- oder Opernpremiere ein Inszenierungsfoto auf der Titelseite abzubilden. Dazu ein Interview mit dem Regisseur tags zuvor. Aber bei »Mein Faust« ist alles anders. Kein Foto für Hartmanns letzte Premiere auf dem Titel. Und im Interview tags zuvor spricht das Blatt mit Enrico Lübbe, Hartmanns Nachfolger im Amt – zum Abschied also eine Ohrfeige? Oder ein Bumerang? Ein Foto von »Mein Faust« schmückt später die Januarausgabe der renommierten Zeitschrift Theater heute. Die Kritik spricht hier von einer »genuinen Konstruktion, ebenso eigen wie eigenartig«. Die Oper kommt im Feuilleton nicht so gut weg: Die Frankfurter Rundschau mokiert sich über »Zweitverwertung«, weil Konwitschnys »Aida« schon andernorts zu sehen war. Man könnte hier allerdings auch von intelligenten Sparansätzen in finanziell schwierigen Zeiten sprechen, und mal ehrlich: Wer aus der Pleißestadt hatte »Aida« 1994 in Graz gesehen? Die Leipziger Volkszeitung spricht bei diesem Thema gern von »Konwitschnys Projekt des theatralen Privatmuseums mit sozial-utopischer Relevanz«, und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung befindet nach dem »Deutschen Miserere«: »Nie wieder nach Leipzig« – und lobt statt der Oper den Italiener an der Nikolaikirche. Auch das Schauspiel muss einiges wegstecken. Bei »Mein Faust« sichtet Bild noch einmal »Sudeltheater in Reinkultur«, hält aber tapfer aus und kommt so in den Genuss, die Intendantengattin, die Schauspielerin Cordelia Wege, einmal nackt zu sehen, »wie sie sich in Erde wälzt, beschmieren lässt und uns dann die Affenfrau macht! Unvergesslich.«

V   Auch übler Leumund bewirkt, dass die Vorstellungen in Oper und Schauspiel oft recht leer bleiben. Manch ein Besucher, der sich mit schlechtem Gewissen ins Theater gewagt hat, fühlt sich doppelt fehl am Platz, möchte am liebsten wieder abtauchen, weil gefühlt mehr Akteure auf der Bühne stehen als Zuschauer im Parkett sitzen: ein Teufelskreis. Immer lauter stellt sich die Frage nach der Publikumsakzeptanz. Als die Politik handelt und Ulf Schirmer zum Opernintendanten kürt, schmeißt Konwitschny Ende 2011 hin: Ihm fehle der Rückhalt bei den Stadtoberen; er sei bei der Wahl Ulf Schirmers nicht gefragt worden und stelle »unterschiedliche ästhetische und weltanschauliche Standpunkte« fest. Für Konwitschny trägt »die Oper etwas sehr Wertvolles zum Erhalt unserer Zivilisation bei, weil sie Menschen-bildend und Werte-bildend wirkt. Sie können nicht einfach die althergebrachten Dinge auf die Bühne bringen, nur in der Hoffnung, dass dann mehr Zuschauer kommen.« Da sieht sich Konwitschny in der Traditionslinie von Lessing bis Brecht: Theater als moralische Anstalt, auf dass dem Zuschauer ein Licht aufgehe – zumindest ist das die Theorie. Was Konwitschny bei »Aida« und »Lohengrin« noch überzeugend gelingt, eine historisch korrekt verortete und dennoch überzeitliche Botschaft zu transportieren, wirkt bei »Alkestis« ziemlich aufgesetzt, weil er hier ganz heutig sein will, ästhetisch aber in der Medienwelt der 80er Jahre stecken bleibt. Die Erleuchtung bleibt auf der Strecke. Der neue Slogan der Oper Leipzig »Licht an!« legt den Finger auf die Wunde.

VI   Für Sebastian Hartmann sieht die Sache in jenem Herbst ähnlich düster aus, und er beendet alle Spekulationen um seine Vertragsverlängerung, indem er beschließt, ihn 2013 auslaufen zu lassen. Zwischen Stadtrat und Stadtverwaltung stehe kein Einvernehmen über die zukünftige künstlerische Handlungsfähigkeit in Aussicht, heißt es in der Pressemitteilung des Schauspiels Leipzig. Auch hier also: Ende mit Neu! Schade! Mag Hartmann als Intendant zu wenig auf Leipzig zugegangen sein, sein Theater war auf der Höhe der Zeit. »Krieg ist eine Unternehmung wider die menschliche Vernunft. Was waren seine Ursachen?«, fragt das gesamte Ensemble im Chor zu Beginn seiner Inszenierung von »Krieg und Frieden« nach Tolstoi und spielt sich wund um einer Antwort willen: drei Stunden, zwei Teile lang, brillant übrigens! Aber welche Antwort könnte es heute noch geben, wenn der Mensch schon von jeher das Gute, das er will, nicht tut, sondern das Böse, das er nicht will? Am Anfang des dritten Teils steht deshalb die neue Frage: »Was ist Kunst?« Sie läuft als Schriftband über die Bühne. Das Ensemble improvisiert dazu, nunmehr in grauenvoll schlechtem Spiel. Genauso, wie es hier im dritten Teil gezeigt wird, haben sich die Hartmann-Skeptiker und -Gegner seine Regietheaterkunst immer vorgestellt: als Textzertrümmerung, als Form ohne Inhalt. Aber sie lassen dabei ein Detail außer Acht: dass nämlich Form ohne Inhalt die Folge von etwas ist. Das kann man hier sehen. Im dritten Teil zeigen die Schauspieler, was übrigbleibt, wenn Theater keine Antworten mehr geben kann; was bleibt, wenn Schauspieler nur noch auf sich selbst gestellt sind. Deshalb also das schlechte Spiel: absichtlich! Und deshalb ist die Frage, die hier gestellt wird, nochmals etwas anders: Was kann Kunst – heutzutage – noch leisten? Ist eine Katharsis möglich?

VII   Als Wolfgang Engel 1995 das Schauspielhaus Leipzig als Intendant übernahm, war seine erste Inszenierung Peter Handkes 1992 in Wien uraufgeführtes Stück »Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten«. Es ist ein Stück ohne Worte und besteht nur aus Regiebemerkungen. In der Stückbeschreibung bei Suhrkamp heißt es, Hauptakteur sei ein Platz, der realen Charakter habe. Es könnte also auch Leipzig gemeint sein: »Akteure spielen Alltägliches, begegnen einander, helfen sich gegenseitig, behindern sich, schließen sich zu Gruppen zusammen und lösen sie wieder auf. Die Begegnungen zwischen den einzelnen intensivieren sich, das Welttheater wird zum Kasperle-Theater, doch hat es nicht den Anschein, als würde da ein Volk zusammenwachsen?« Ein skeptischer Nachwendeblick also. Ob das Stück in Leipzig mal wieder auf den Spielplan gehört? Natürlich in zeitgemäßer Interpretation. Im Zentrum stünden dann die Geburtswehen einer Kulturstadt. Eine Szene könnte Peter Konwitschnys Vorwort im Opern-Spielzeitheft 2008/09 nachempfinden – gespielt würde dann: »Im öffentlichen Leben ist es nicht einfach, zu singen ohne verhaftet zu werden.« Und nach der Pause gibt es dann Szenen aus Hartmanns »Mein Faust«. Auch das ist ein Stück ohne Worte.