Editorial

Edelvollmilchschokolade mit einem Spruch auf der Verpackung – am 5. Mai, einem Sonntag, bekomme ich ein solches »Poesietäfelchen« geschenkt. Darauf ein Jean-Paul-Zitat: »Gehe nicht, wohin der Weg führen mag, sondern dorthin, wo kein Weg ist, und hinterlasse eine Spur.« Ich kenne das Zitat nicht, finde im World-Wide-Web auch keine Quelle. Dabei scheint es mir gut zur verquasten Konzertsaalsituation in Dresden zu passen: Mit dem Blick von außen wünschte man der Stadt, sie hätte längst einen neuen Weg gespurt. Näheres beschreibt unsere Titelgeschichte.

Es ist Jean-Paul-Jahr. Pünktlich zu seinem 250. Geburtstag am 21. März 2013 wurde in seinem letzten Wohnort Bayreuth das Jean-Paul-Museum wiedereröffnet. (Angesichts der Bayreuther Blamage in Sachen Richard-Wagner-Museum, von der wir in unserer vorletzten Ausgabe berichteten, ist das umso nennenswerter.) Im Mai 1798 machte sich der Schriftsteller von Leipzig aus, seinem damaligen Wohnsitz, auf den Weg nach Dresden. Hätte es schon die Dresdner Musikfestspiele gegeben (die aktuellen gehen bei Erscheinen dieser Ausgabe gerade zu Ende), Jean Paul Friedrich Richter wäre mitten hinein in sie geraten. So aber wanderte er nicht von Konzert zu Konzert, sondern besuchte unter anderem die Gemäldegalerie – sah er dort Bernardo Strozzis »Gambenspielerin« (siehe den Beitrag zu diesem Bild in unserem Heft)? –, erlebte am Himmelfahrtstag den Einzug von Fürst und Gefolge in die Hofkirche und knirschte seine »demokratischen Zähne« über die devoten Dresdner, die »nicht schön, nicht edel, nicht lesebegierig, nicht kunstbegierig sind, sondern nur höflich«.

Ein weiteres Mal kam Jean Paul im Mai 1822 nach Dresden, traf dort am 5. Mai ein, einem Sonntag. Ob er in den fünf Wochen, die er blieb, sein harsches Urteil von 1798 revidiert hat? Es würde uns freuen. Denn abgesehen von allgemein innersächsischer Verbundenheit – die uns in dieser Ausgabe einmal ganz gezielt nach Dresden schauen lässt – haben wir aus der Geschichte und der Gegenwart des Gewandhauses eine Vielzahl »edler« und »kunstbegieriger« Dresdner vor Augen. Heinrich August Matthäi etwa, 1781 in Dresden geboren (im gleichen Jahr begann Jean Paul in Leipzig zu studieren), gehört zu den bedeutendsten Konzertmeistern des Gewandhausorchesters (passend dazu der Beitrag in unserem Heft zum neuen Bratscher des Gewandhaus-Quartetts, dessen Mitbegründer und langjähriger Primarius Matthäi war). Aktuelle Beispiele liefert ein Beitrag in unserem Heft, der zugleich einige »Binnenverhältnisse« zwischen Leipziger und Dresdner Musikern beleuchtet.

Eckart Haupt, gewähltes Mitglied des Sächsischen Kultursenats (ein Beitrag in unserem Heft beleuchtet das Gremium), ist ebenfalls ein herausragendes Beispiel für einen kunstbegierigen und keineswegs devoten Dresdner. Und das sagen wir nicht nur höflichkeitshalber oder weil sein Sohn Tobias Haupt als Geiger dem Gewandhausorchester angehört und dessen Vorstandsvorsitzender ist. Welche Fragen uns zwei Tage vor Jean Pauls 250. Geburtstag zu dem langjährigen Soloflötisten der Sächsischen Staatskapelle nach Dresden trieben, ist in unserem Interview zu lesen. Apropos: Für die obengenannte Spruchschokolade wirbt die Tuttlinger Herstellerfirma mit dem Slogan »Lesen, genießen, abschalten«. Für den Genuss unseres Heftes ist es sicher ratsamer, es ohne abzuschalten zu lesen. Und sei es mit einem »Poesietäfelchen« im Mund.

Claudius Böhm