Nachruf

Am 8. Februar 2013 ist Friedrich Schenker gestorben. Wir baten den Komponisten und Pianisten Steffen Schleiermacher um einen persönlichen Nachruf.


Gedenken ist stets auch ein Erinnern: Was war? Gedenken ist aber auch ein Blick in die Zukunft: Was bleibt?

Erinnerungen an Friedrich Schenker sind vielfältig, sie reichen vom Anekdotischen über das Amüsante hin zum Beeindruckenden und Prägenden und schließen auch Befremdliches ein. Meine früheste Erinnerung an Fritz Schenker ist verbunden mit einer Schallplatte aus der Reihe »Nova«, die in der DDR die sogenannte neue Musik repräsentierte. Neben vielen unsäglichen Scheiben mit Klangentäußerungen von Ernst Hermann Meyer und anderen sozialistischen Realisten, über die inzwischen der Sturm der Musikgeschichte hinweggefegt ist, tauchten da ab Mitte der 70er Jahre auch Schallplatten mit ganz anderer neuer Musik auf. Irgendwann erwarb ich im Schallplattenladen meines Vertrauens – noch als Schüler – eine LP, auf der Seltsames zu hören war: eine Sinfonie »In Memoriam Martin Luther King« von Friedrich Schenker. Wobei der Name mir nichts sagte. Verzückt lauschte ich dem wilden und gleißenden Klanggestrüpp – und ertappte mich, selbst bei wiederholtem Hören, bei Gedanken, die etwas mit »Tassen« und »Schränken« zu tun hatten. Ich erinnere mich, diese Scheibe sogar Schulfreunden vorgespielt zu haben als besonders eindrucksvolles Beispiel für Schrägheit. Und ich staunte auch immer wieder, dass dies alles überhaupt »erlaubt« sei.

Diese Gedanken (an die Tassen und das Erlaubtsein) haben mich im Umgang mit Fritz und seiner Musikästhetik eigentlich immer wieder beschäftigt. Allerdings in ganz anderer Weise: Wer bestimmte eigentlich die Ordnung der Tassen im Schrank? Muss diese überall einheitlich sein? Wer bestimmt da den Maßstab? Gehören Tassen überhaupt zwangsläufig in den Schrank? Und weiter: Wer hat da irgendetwas zu erlauben? Oder zu verbieten? Denn genau das waren seine Themen, musikalisch wie im Leben. Fritz akzeptierte Regeln, Begrenzungen und Einschränkungen eher selten. Wie er selbst wirkte auch seine Musik oft maßlos – im Sinne von grenzenlos. Er war gern und stets bereit, imaginäre Grenzen (und Verbote) zu überschreiten. Dass er damit in vielen Augen und Ohren zum Bürgerschreck avancierte, hat er wohl billigend (und erheitert) in Kauf genommen – und zuweilen als Attitüde auch gepflegt. Ich erinnere mich an die betont unkonventionelle Bühnenkleidung der von ihm gegründeten Gruppe Neue Musik »Hanns Eisler«, die arg am bürgerlichen Konzertritual schabte. Und ich erinnere mich auch an seine – zuweilen etwas obszön wirkenden – Reaktionen bei Unmutsreaktionen seitens des Publikums. Diplomatie war nie seine Stärke. Doch das waren alles Äußerlichkeiten. Er war kein Nihilist und auch kein Zyniker, der sich über die Zustände lustig machte und provozieren wollte, um Aufmerksamkeit zu erregen. Nein, Fritz war ein bestaunenswerter Optimist: Er glaubte an die Möglichkeit der Verbesserung der Welt. Seinerzeit der DDR. Und auch des vereinigten Deutschlands. Er glaubte auch an die Möglichkeiten der Musik bei diesem Prozess. An die Aufgabe der Künstler, bei diesem Veränderungsprozess eine Rolle spielen zu müssen, tatsächlich Vorreiter zu sein, also Avantgardist (nur in diesem Sinne akzeptierte Fritz übrigens diesen Begriff). Mich persönlich haben die Konzerte der Eisler-Gruppe immer angeregt, auch wenn ich einzelnen Stücken gegenüber manchmal ratlos und zuweilen auch sehr bestimmt in meiner Meinung war. Es wehte einem seinerzeit im Festsaal des Alten Rathauses immer ein leichter Wind von Freiheit und auch von Dissidententum um die Nase.

Friedrich Schenker hat zweifelsfrei das Leipziger Musikleben sehr geprägt, zumindest, was die neue Musik betrifft. Zahllos und zum Teil legendär sind die Konzerte der Eisler-Gruppe im Rathaus. Bei denen es durchaus zu tumultuarischen Szenen kam. Schenker hat aber auch, im Auftrag von Kurt Masur, eine Konzertreihe mit neuer Musik am Gewandhaus konzipiert, deren erstes Konzert am 18. September 1983 stattfand. Und die es bis heute unter dem Namen »musica nova« gibt. Eine nicht mehr überschaubare Anzahl von Uraufführungen und Wiederaufführungen seiner Musik fand in Leipzig statt, mit dem Leipziger Rundfunk-Sinfonieorchester, in dem er 18 Jahre lang Soloposaunist war, mit dem Gewandhausorchester, dem Gewandhaus-Kinderchor (dem sich Fritz besonders verbunden fühlte), der Eisler-Gruppe, dem Aulos-Trio und so weiter.

Ohne andere Stücke damit abzuwerten – besonders berührt hat mich die »Missa nigra«, ein szenisches Ritual über ein mögliches Ende der Welt (damals wurde gerade über die diversen Raketenstationierungen in Ost- und Westdeutschland diskutiert, es waren die heißen Zeiten des Kalten Krieges!). In schaurigen Kostümen und Masken (entworfen von Hartwig Ebersbach) zelebrierten die Musiker eine finstere, makabre Untergangsvision, die auf mich außerordentlich verstörend wirkte. Auf gänzlich andere Art berührt hat mich die Michelangelo-Sinfonie, uraufgeführt 1985 vom Gewandhausorchester unter Leitung von Kurt Masur. Hier schien mir die Maßlosigkeit zu maßlos: von allem zu viel. Und das zu lang. Ich erlebte das Stück irgendwie als Warnung. Auch Fritz war wohl nicht ganz zufrieden mit sich. Doch wie immer äußerte er sich etwas respektlos über seine eigene Musik: »Was soll sein? Einmal im Leben muss man auch mal so einen Riesenschinken komponieren dürfen.«

Etwas in Vergessenheit geraten ist heute das umfangreiche Schaffen von Schenker für den Rundfunk, seine sogenannte angewandte Musik: Hörspielmusiken und Hörstücke. Ein Meilenstein dürfte dabei seine Musik für das Kinderhörspiel »Sindbad der Seefahrer« sein, das Mitte der 80er Jahre für eine Schallplatte produziert wurde und sich erstaunlicherweise außerordentlicher Beliebtheit erfreut – bis heute. Fritz’ lakonischer Kommentar zu den atemberaubenden Klängen, die er da komponierte und improvisierte, lautete seinerzeit: »Man muss halt den Bildern der Hollywood-Abenteuerfilme was Adäquates entgegensetzen. Ist eben nicht alles nur zum Wohlfühlen ...« Nein, das ist diese Musik in der Tat nicht.

Was wird bleiben von Friedrich Schenker? Es ist müßig, darüber zu spekulieren, welche seiner Stücke den Sprung ins Repertoire schaffen, welche Kompositionen in einigen Jahren oder Jahrzehnten noch auf Spielplänen auftauchen werden. Ihm selbst wäre das vermutlich egal, er wollte immer aktuell sein und nicht Teil eines Museums. Sollte seine Musik ganz vergessen werden, wäre es schade. Nicht für die Musik, sondern für zukünftige Generationen.

In den letzten Jahren war es eher still geworden um ihn. Schenker war wohl einer der wichtigsten deutschen Komponisten der letzten Jahrzehnte. Und wohl auch eines der typischen ostdeutschen Schicksale: Zu DDR-Zeiten hatte er sich gegen viele Widerstände als Komponist etabliert, weit weg vom verordneten sozialistischen Realismus. Seine Werke wurden (zuweilen widerwillig) aufgeführt und (zuweilen frenetisch) bejubelt. Doch nach der Revolution (einer anderen, als sich Schenker gewünscht hatte) blieben die Erfolge und auch das Interesse plötzlich aus. Seine politische, seine widerständige Musik war nicht mehr gewünscht.

Widerstand leistete er seinerzeit gegen die Vereinnahmung durch die DDR, durch Ideologien und Parteiapparate. Oft genug eckte er an, sowohl vor als auch nach der Wende: Widerstand eben auch gegen Vereinnahmung durch das neue Deutschland. Skepsis überwog, Schenker konnte und wollte sich musikalisch nicht verändern, anpassen an neues stromlinienförmiges Komponieren, an kapitalistisches Denken und marktgeschmeidiges Handeln, an smarten Zeitgeist und postmoderne Beliebigkeit. Er glaubte vielmehr weiterhin an die Aufgabe der Kunst, die Gesellschaft und die Menschen zu verändern, zu verbessern, auch, sie konstruktiv zu verstören.

Schenker war kein Heiliger, er taugt auch nicht zum Idol. Aber vielleicht doch als ein Vorbild in Sachen kreativer Kompromisslosigkeit und ästhetischer Konsequenz. Kreativität hatte für Fritz stets etwas mit Freiheit zu tun: Ästhetische, politische, kompositorische, soziale Grenzen galt und gilt es nicht »auszuloten«, um sich dann bequem darin einzurichten. Grenzen gilt es zu verschieben, zu annullieren oder zumindest: durchlässig zu machen!