Die Feldpost des Gewandhausgeigers Artur Graefe

»Wie schön haben es doch die Kollegen im Gewandhaus«, schrieb Artur Graefe aus Russland. Er dagegen hatte in den Krieg ziehen müssen. Was er 1942/43 unmittelbar hinter der Front erlebte, schilderte er in seinen Feldpostbriefen – mal deutlich, mal andeutungsweise. Wir haben eine Auswahl zusammengestellt.

Es ist Mittwoch, der 26. August 1942. Nahe der russischen Kleinstadt Schisdra, 300 Kilometer südwestlich von Moskau, greift der Unteroffizier Artur Graefe zu Kopierstift und liniertem Briefpapier. »Meine Lieben!«, schreibt der 28-Jährige. »Heute beginnt das 4. Kriegsjahr für mich ...«
Die Lieben sind die Eltern und die neun Jahre jüngere Schwester in Leipzig, der Geburts- und Heimatstadt Artur Graefes. Als er am 26. August 1939 einberufen wurde, lag seine Aufnahme ins Gewandhausorchester noch kein Jahr zurück. Und ihn, den Jüngsten im Orchester, traf es als einen der Ersten. Dabei hatte der Geiger zunächst Glück, als Sanitätsgefreiter in das in Leipzig stationierte Musikkorps beim Ersatzbataillon des 11. Infanterieregiments gesteckt zu werden. Knapp drei Jahre später endete das vergleichsweise ruhige Leben in der Heimat: Graefe wurde nach Russland befohlen, wo er am 11. Juni 1942 eintraf: »Es war stockdunkel als wir in unserem Dorf, 800 m hinter der Front, ankamen. Begrüßt hat uns ein prima Feuerwerk von der Flak.«
Ein Großteil der Feldpost, die er bis September 1943 aus Russland an die Familie in Leipzig schrieb, hat sich erhalten. Wenn wir im Folgenden Auszüge daraus veröffentlichen, so geschieht das gleichsam unter Vorbehalt: Graefe musste wie jeder Soldat damit rechnen, dass seine Briefe geöffnet, kontrolliert und zensiert wurden. Da galt es, manches zwischen die Zeilen oder bisweilen sogar genau das Gegenteil dessen zu schreiben, was man eigentlich meinte – im Vertrauen darauf, dass die Adressaten das verstanden, nicht zuletzt mit Hilfe von vereinbarten Codes und Stichwörtern. Uns Lesern von heute fehlt die Kenntnis des Vereinbarten. Mit umso größerer Vorsicht sollten wir urteilen; Graefes Haltung und Überzeugung lassen sich schwerlich allein aus diesen Schriftstücken herauslesen. Eindeutig aber geben diese seine Sehnsucht nach Kriegsende, Frieden, unversehrter Heimkehr wieder.

Ou, den 17.6.42
Nun bin ich schon einige Tage hier, ein Stück weg von Br[iansk], und habe mich schon ziemlich an die Knallerei gewöhnt. Wir Musiker sind bei einer Kompanie und bauen Bunker und Straßen. Die Musikinstrumente sind augenblicklich in der Heimat zur Reparatur und sollen in einiger Zeit von Urlaubern mitgebracht werden. Vielleicht können wir dann mal wieder Musik machen. Am Tag ist hier nicht viel los, nur ab und zu rattert ein M. G. oder die Art[illerie] schießt, manchmal kommen auch feindliche Jäger, die dann unter Feuer genommen werden. Aber nachts ist der Teufel los, da wackelt und bebt der Erdboden unter den Art.-Einschlägen. Die Front ist dann ganz hell erleuchtet.

[Die Abkürzung »Ou« steht für »Ortsunterkunft«, eine den genauen Standort verschleiernde Angabe.]

Ou, den 19.6.42
Ich liege augenblicklich noch auf derselben Stelle, wo ich schon vor 8 Tagen lag. Das Gelände ist sehr sumpfig und es gibt sehr viel Mücken. Täglich bekommen wir eine Pille gegen Malaria ... Im Augenblick ist alles friedlich, kein Schuß fällt, die Vögel zwitschern und die Abendsonne scheint. Eben kommen auch die Kühe von der Weide man kann fast glauben in der Heimat zu sein. Vor einem Hause sitzen Russen und singen mit Ziehharmonikabegleitung ihre Volkslieder, immer wieder dieselben ... Einige Brocken russisch habe ich schon gelernt, gefallen kann mir aber diese Sprache nicht.

Ou, den 28.6.42
Heute ist Sonntag und ich denke an Euch, wie Ihr jetzt beim Kaffeetisch sitzt ... Ich bin gespannt, wann ich mal wieder zum Geige spielen komme. Na, das wird schon alles wieder, die Hauptsache ist, daß die Hände nicht verletzt werden.

Osten, den 21.7.42
Fast jedesmal bei der Postverteilung ist ein lieber Brief von Euch mit bei. Ihr wißt garnicht mit welcher Spannung hier von uns die Post erwartet wird ... Heute kann uns hier die unverschämte Hitze wieder schwach machen, ich glaube so heiß ist es bei uns in Deutschland in den Hundstagen nicht. Wir schlafen jetzt in Zelten und nachts ist es wieder ziemlich kalt, sodaß man sich ganz schön einkuscheln muß, um nicht zu frieren. Erbärmliches Klima! Dabei ist es wieder so feucht, daß die Briefumschläge von selbst zukleben ... Wenn nur endlich die Musikinstrumente hierher kämen, man ist eben doch mehr Musiker als Soldat! ... Na! die Hauptsache man bleibt gesund, alles andere ist Nebensache.

Rußland, d. 13.8.42
Heute möchte ich mich nun mal richtig für Euer liebes Paket bedanken ... Nun habe ich alles wieder beisammen, Taschenmesser, Rasierzeug und Geldbörse, und ich will hoffen, daß nicht wieder alles verbrennt. Wie das alles gekommen ist, darf ich Euch nicht schreiben, wenn ich mal heim komme werdet Ihr es schon erfahren. Wie lange kann das noch dauern? – Na, einmal wird’s schon passieren.

Rußland, d. 26.8.42
Heute beginnt das 4. Kriegsjahr für mich, Ihr entsinnt Euch sicher auch noch der Nacht, als unten Sturm geleutet [!] wurde und ein Soldat mit meinem Stellungsbefehl da stand. Was liegt seit jener Nacht nicht alles hinter uns. Bis jetzt ist für uns der Krieg einigermaßen erträglich vorüber gegangen. Ich habe fast 3 Jahre gespart, denn die Leipzig-Zeit war ja keine richtige Militärzeit. Seit Juni hat sich das Blättchen nun etwas gewendet. Na, die Hauptsache ist, daß ich alles gut überstehe. Gestern kam ein Befehl vom R[e]g[imen]t, daß unsere Instrumente in diesem Jahre nicht mehr geholt werden, erst zu Beginn des nächsten Frühjahrs. Wir bekommen jetzt keinen Wagon von der Reichsbahn zu Verfügung gestellt. Wir werden wahrscheinlich den verschiedenen Kompanien zugeteilt und müssen dort Gruppenführerdienst machen. Schade, daß ich solches Pech habe. So wird man langsam aber sicher der Musik entführt ... Wie sieht in diesem Jahre bei Euch die Ernte aus? Hier scheint sie sehr gut ausgefallen sein. Das Getreide ist alles rein geholt worden. Ihr glaubt gar nicht, selbst das Niemandsland zwischen beiden Fronten war im Frühjahr bebaut worden. Vor unserem Fenster liegt ein riesiges Kartoffelfeld, so viel ich davon verstehe muß es eine gute Kart[offel]ernte geben. Wir hätten uns gern einmal ein paar Kartoffeln rausgemacht, aber es ist sehr streng verboten und wird als Sabotage schwer bestraft ... Gestern abend hatten wir als Gesprächsstoff einmal den Geigenbau dran. Eines Kameradens Vater war Geigenbauer in Klingental [!] und er wußte allerhand zu berichten, ich weiß ja auch so einiges und so haben wir uns mal ganz nett über was »vom Fach« unterhalten.

Rußland, d. 29.9.42
Ihr glaubt gar nicht wie sehr wir während der letzten Wochen beschäftigt worden sind. Erst war ich kommandiert vom 1–14 Sept. bei den gefangenen Russen und als ich zurück kam zu meinem alten Verein wartete wieder andere harte Arbeit, die bis jetzt noch nicht abgerissen ist. Nach und nach habe ich mich aber auf die neue Tätigkeit umgestellt, ich müßte, wenn ich diese Arbeit in der Heimat verrichten würde, Schwerarbeiter-, wenn nicht sogar Schwerstarbeiter-Zulage erhalten ... Elfriede schreibt so nett, daß ich eventuell im Winter zu einer Frontbühne kommen kann. Auf diese Sachen rechne ich nicht mehr, habe ich Gottseidank noch nie gerechnet. Ich nehme alles wie es kommt, mich kann nichts mehr erschüttern. Musik ist für mich fast ein fremder Begriff geworden. Ja, Elfriede hat recht, wenn es mal wieder so weit ist muß ich üben, sehr viel üben. Aber glaubt mir, wenn nicht mehr das Kriegsgespenst dauernt [!] Unruhe stiftet werde ich mit Freude und viel Lust üben können. Jetzt wäre es mir auch in der Heimat nicht möglich freudig zu üben. Innere Ruhe braucht man als Musikant. Technisch werde ich viel eingebüßt haben, aber das kann man zur Not wieder erreichen. Die Hauptsache aber ist, daß das Musikantenherz erhalten bleibt – und das ist es vorläufig, auch wenn zeitweise durch die militärische »Sturiosität« einem nicht wie Musikant ist. Einmal wird schon wieder eine schönere Zeit beginnen, in der der Künstler nicht als Erdarbeiter sondern als Kulturträger schaffen kann.

[Elfriede Graefe war die neun Jahre jüngere Schwester von Artur Graefe. Sie studierte zu dieser Zeit an der Musikhochschule in Leipzig Harfe.]

Rußland, d. 1.10.42
Nur ganz große Glücksvögel können jetzt noch in der Heimat sein und ein angenehmes Leben führen. Nur wäre es gut, wenn auch einmal die Musiker, die von Anfang an den Krieg mitmachen für einige Zeit in der Heimat sein könnten. Stellt Euch vor, ein Geiger der nun über drei Jahre nicht mehr geübt hat, vielleicht vorher 2 Jahre aktiv gedient hat, was aus dem geworden ist. Es ist fast zum Heulen, wenn man dran denkt. Wie froh kann ich sein, daß ich wenigstens die eine Beruhigung haben kann, meine Stelle zu haben. Im übrigen habe ich mir das Nachdenken völlig abgewöhnt. Es ist ja Dummheit, wenn man etwas überlegt. Hier beim Militär macht man doch alles falsch. Manchmal könnte einen die Wut packen, wenn rüpelhafte Bauerntoffel einen wie einen dummen Jungen behandeln, obwohl man Unteroffizier ist. Na, ich bin gespannt, wenn es vor Kriegsschluß doch noch einmal zum Musizieren kommen sollte, was diese großen Alleswisser und Alleskönner auf ihren Instrumenten leisten. Komisch, obwohl ich noch niemand spielen gehört habe, kann ich mir vorstellen, was die einzelnen Kameraden drauf haben. Nur mit wenigen kann man sich mal vernünftig über Musik unterhalten. Den meisten Musikerkameraden ist ihr Musikberuf so gleichgültig, wie mir das Soldatenleben. Es hilft eben nichts, als stur in den Tag hinein gelebt und froh zu sein wenn wieder ein Tag um die Ecke gebracht ist ... Heute ziehen wir wieder um, ich bin als Nachkommando noch einen Tag in der alten Unterkunft, die Anderen sind schon fort.

Rußland, d. 3.10.42
Heute bin nun endlich auch ich den anderen Kameraden gefolgt und in die neue Unterkunft übergesiedelt. Hier wird nun die Bauerei von Bunkern u. s. w. wieder beginnen. Aber das schadet ja nichts, so lange man gesund ist ... Ihr glaubt garnicht wie gern ich mir sogenanntes Illusionsessen zubereite. Ich stelle mir im Geiste vor, ich würde zu Hause sitzen und meine Lieblingsspeisen einnehmen. Wie gern würde ich jetzt mal Quarkkeulchen, Kartoffelpuffer, Eierkuchen oder Haferflocken oder Griessuppe nach Muttis Rezept essen. Dazu die schönen Kompotte: Apfelmus, Heidelbeeren, Kürbis, Birnen, Kirschen, Dreifrucht, Rhabarber und was es noch schönes gibt. Wenn es doch mal wieder so weit wäre! Habt Ihr am 30. Sept[ember] den Führer anläßlich der Eröffnung des Winterhilfswerkes sprechen hören. Es sah nicht wie baldiger Friede aus. Im vergangenen Jahr um diese Zeit glaubten wir bald es könne in Rußland dem Ende entgegen gehen; wie haben wir uns getäuscht! ... Mutti möchte mir doch ein paar Fausthandschuhe für den Winter zurecht machen, die Kameraden empfehlen es sehr. Gerade die Hände sind bei mir doch sehr wichtig, daß ich sie nicht erfriere. Ich möchte mal wissen, wie jetzt das Geigespielen bei mir gehen würde. Ich glaube, es wird wohl alles eingerostet sein.

Rußland, d. 12.10.42
Gestern morgen war ein Feldwebel (ein netter Kerl) und ich bei einer Morgenfeier in Sh[isdra] in der uns nächstliegenden Stadt. Wir mußten zwar 16 km laufen, aber es war mal eine Abwechslung. Es wurde dort Kammermusik geboten und zwar spielten ein Pianist und ein Geiger ... Der Pianist war nicht schlecht, doch fehlte ihm die gewisse innere Ruhe, der Geiger schien aus einem guten Kaffeehaus zu stammen, seiner Auffassung von Beethoven nach. Diese Beiden haben das große Los gezogen, werden immer für solche Veranstaltungen herangezogen und können selbst in Rußland ziemlich an der Front üben und Kammermusik pflegen. Die Glücklichen!

[Dem Brief liegt bei der Programmzettel einer »Kammermusikalischen Morgen-Veranstaltung« vom 11. Oktober 1942 im »Soldaten-Kino Shisdra«.]

Rußland, d. 25.10.42
Damit ich wenigstens innerlich ein wenig von dem heutigen Sonntag spüre, will ich im Geiste bei Euch sein. Äußerlich gleicht ja der Sonntag hier jedem anderen Tag. Heute morgen haben wir wieder Bunker geschachtet, aber den Nachmittag haben wir uns frei genommen ... Ich bin auf Elfriedes Bericht vom Gewandhauskonzert mit »Don Juan« gespannt. Peter und Reuter können so sorglos und ungestört Musik machen, die Glücklichen. Wir sind dagegen fast ein halbes Jahr ohne unseren Beruf. Läßt sich aber nicht ändern.

[Richard Strauss’ »Don Juan« wurde im Gewandhauskonzert am 15. Oktober 1942 gespielt. Mit Reuter könnte Graefes Kollege Willi Albrecht Reuter gemeint sein. Der zu dieser Zeit 36-Jährige war seit 1937 Geiger im Gewandhausorchester. Mit Peter könnte der Cellist Paul Peter gemeint sein; Näheres ließ sich zu ihm nicht ermitteln.]

Rußland, d. 3.11.42
Vorgestern hatten wir anläßlich zweier Unteroffiziersbeförderungen einen kleinen Kameradschaftsabend veranstaltet. Da [einer] der Uffz. Küchencheff ist, verlief die Angelegenheit nicht ganz trocken ... Außerdem war auch für musikalische Abwechslung gesorgt. Ein Kamerad hatte aus dem Urlaub seine Harmonika mitgebracht. Ein anderer hatte eine Klampfe (oder wie das Ding heißt) und dann brachte plötzlich einer – nun lest und staunt – eine Geige angeschleppt. Da mußt ich natürlich ran und den Kameraden etwas vorspielen. Zum ersten Mal wieder, seit ich im Mai von Giltsch weg bin, habe ich wieder Geige gespielt. Im August hatte schon mal eine in der Hand, aber auf der konnte man nicht spielen. Auch auf dieser jetzigen konnte man kein Mozartkonzert spielen, aber das war auch nicht nötig. Vielleicht, wenn andere Saiten – die D-Saite war in der Mitte geknüpft, – auf dem Instrument wären, könnte man zur Not ganz gut darauf spielen. Auf dem Bogen waren nur noch 25 Haare, wenn es so viel waren. Da wollen wir uns aber helfen, indem wir von einem Pferdeschweif einen Bezug abschneiden, diese werden gebleicht und können dann aufgezogen werden.

[Karl Giltsch – im Deutschen Musiker-Kalender von 1943 als »Königlicher Musikdirektor« verzeichnet – leitete das Musikkorps des 11. Infanterieregiments in Leipzig.]

Rußland, d. 24.11.42
Vorgestern abend habe ich wieder Geige gespielt. Ein Feldwebel hatte sich die Arbeit gemacht und den Bogen, auf dem nur noch etwa 20 Haare waren, bezogen. Pferde haben wir ja genügend und so wurde kurzerhand ein Konny (= Pferd) eines Teiles seines wertvollen Schmuckes beraubt. Die Haare wurden einige Male tüchtig ausgekocht, damit der Rollbahndreck nicht mit auf den Geigenbogen kam. Und dann hat der Feldwebel, den es reizte einmal einen Bogen zu beziehen, den Fiedelbogen tadellos in Ordnung gebracht. Ich muß selbst staunen wie er ohne alle nötigen Hilfsmittel die Sache gemeistert hat. Die Haare sind zwar etwas dunkler als gewöhnlich, weil sie nicht gebleicht sind, aber dafür streicht er um so besser. Die Geige selbst ist ja nun nicht gerade »die Masse« aber für die Verhältnisse und vor allem Rußland ist sie eine erstklassige Meistergeige. Vielleicht klingt sie mit einer ganzen D-Saite noch besser. Die D-Saite ist nämlich mitten auf dem Griffbrett geknüpft. Immer wenn man etwas Zusammenhängendes spielen will und man kommt auf die D-Saite gibt es ein furchtbares Geschnarre. Wir möchten gern zu Weihnachten etwas Musik machen. Ein Kamerad hat eine Harmonika, dazu haben wir noch das Schlagzeug zurecht gemacht, also eine kleine Kapelle haben wir schon, obwohl unsere Instrumente in Leipzig ihren Winterschlaf halten ... Ja, vorgestern abend haben wir die erste Probe gemacht und es dauerte nicht lange da war die Bude voller Zuhörer. In der Türe standen auch einige Russen, denen wir auch russische Volkslieder vorspielten. Schon hat es sich herumgesprochen, daß ein Instrument hier ist und gleich wollen sich Verschiedene die Geige ausborgen. Die Hauptsache ist, daß wir Weihnachten nicht ohne Musik sind, das heißt Voraussetzung ist natürlich, daß wir zum Fest Ruhe haben.

Rußland, d. 30.12.42
Heute morgen bin ich gesund und munter wieder bei meinem Haufen eingetroffen ... Am 26. 13 h kam ich in Bialystock an. Dort gab es Marschverpflegung und Munition ... Am 28. gegen 14 h war ich in Briansk. Dort habe ich auf der Frontsammelstelle übernachtet und am nächsten Morgen gings dann weiter nach S[chisdra]. Dort blieb ich über Nacht bei der Urlaubersammelstelle unserer Division. Dort habe ich mich über Nacht etwas erkältet (Hier sind 30 Grad Kälte – es ist aber nicht schlimm) ... Ich bin nun gespannt als was ich nun verwendet werde. Es wird hoffentlich alles gut werden. Ich habe im Trasch vergessen mir ein paar Geigensaiten mitzubringen. Vielleicht kann ich doch mal irgendwo Geige spielen. Würdet Ihr bitte so gut sein und mir einen Bezug Saiten von Marx Alwin besorgen. E-Saiten vielleicht doppelt ... Haltet den Daumen, daß bei mir alles gut wird.

[Geschrieben nach der Rückkehr aus dem Fronturlaub. – Mit »Trasch« meint Graefe »Drasch« (sächsisch für Aufregung, Eile, Hektik). – Alwin Marx war Geigenbaumeister in Leipzig.]

Rußland, d. 15.1.43
Mutti schreibt ich möge bald wieder dazu kommen Musik zu machen. Hier spricht man eher das Gegenteil, von der Auflösung des Musikkorps. Wie’s kommen mag, mir ist’s sch[n]ubbe. Zu beneiden sind diejenigen, die in der Heimat noch in Ruhe ihrer künstlerischen Tätigkeit nachgehen können. Wie schön haben es doch die Kollegen im Gewandhaus.

Rußland, d. 22.2.43
Es ist gar nicht schön, wenn man nicht regelmäßig nach Hause schreiben kann. Aber es kommt sicher bald wieder, daß ich es tun kann. Wie ich schon schrieb sind wir seit Anfang dieses Monats nicht mehr an unserem alten Fleck. Es war in den letzten Wochen bei uns allerhand los, jetzt hat es sich aber wieder beruhigt ... Während es bei Euch schon wie im Frühjahr ist, quält uns hier der elende russische Winter. Hoffentlich brauche ich nicht noch einen zu erleben. Bis jetzt habe ich aber alles, außer einer erfrorenen Zehe (große rechts II. Grades) gut überstanden und ich glaube auch den Rest des Winters noch gut zu überstehen. Mir scheint es auch, als wenn der Krieg in diesem Jahr seinen Höhepunkt erreichen muß ... Was macht Elfriedes Studium? Wird sie auch mit zur totalen Kriegführung eingespannt?

Rußland, d. 27.3.43
Morgen Sonntag ist Feldgottesdienst, da soll ich mit 2 Harmonikaspielern Choräle und das Largo von Händel spielen. Die Geige war während der letzten Wochen in O[rel] und ist so erhalten geblieben. Zum Largo haben wir leider keine Noten, wir spielen es aber so gut wir können aus dem Kopfe. Vielleicht schreibt mir mal Elfriede auf ein Stück Marschnotenpapier die Melodie vom Largo mit unterlegten Bässen und schön wäre es auch, wenn Elfriede auf die Rückseite das Ave Maria von Schubert drauf schreibt. Der Gottesdienst soll in einem Pferdestall abgehalten werden. Hoffentlich platzen nicht die Saiten, denn die Ersatzsaiten die Ihr mir damals geschickt habt liegen irgendwo, dort wo jetzt der Russe sitzt. Ein Wirbel von der Geige ist kaputt, da muß ich mir einen von einem Kameraden von der Artillerie borgen. Wenn Ihr da mal einen von Marx Albin besorgen könntet wäre das sehr schön. Mit Interesse las ich Elfriedes Zeilen, daß alle Studierenden nachmittags zum Fabrikeinsatz befohlen werden ... Von dem Jubiläums-Konzert des Gewandhausorchesters habe ich auch in den Zeitungen gelesen. Wenn es nur erst wieder so weit wäre, daß ich beim Gewandhaus mitspielen könnte ... Wie ist es eigentlich, bei der totalen Kriegführung müßten doch Stiehler und Kalki auch eingezogen werden, diese Leute haben komischerweise überhaupt noch nichts vom Soldatenspielen gemerkt.

[Am 11. März 1943 wurde im Gewandhaus das »200jährige Bestehen der Konzerte« gefeiert. – Kurt Stiehler, zu dieser Zeit 32, und Max Kalki, 35, waren Erste Konzertmeister des Gewandhausorchesters.]

Rußland, d. 29.3.43
Gestern war bei uns ein großer Tag. Dem Oberschirrmeister Vogt von unserer Kompanie wurde aus der Hand unseres Oberst, der den Divisionsgeneral vertritt das Ritterkreuz überreicht. Wie sehr wir uns alle über diese Auszeichnung freuen, werdet Ihr Euch sicher vorstellen können. Unser Ritterkreuzträger hatte vor etwa 6 Wochen 2 russische Panzer geknackt und dadurch wesentlich oder besser gesagt überhaupt beigetragen, daß wir ohne all zu große Verluste aus einer gefährlichen Lage heraus kamen ... Natürlich mußte das ordentlich begossen werden. Ein Harmonikaspieler und ich mit der Geige hatten vollauf zu tun. Nachmittags beim Oberst, Abends bei unserem Oberleutnant zum Essen und anschließend Kameradschaftsabend der Unteroffiziere ... Gestern morgen war Feldgottesdienst bei dem ich auch Geige spielen mußte. Wir haben mit 2 Harmonikas 3 Choräle und das Largo von Händel so recht und schlecht hingebracht, für Rußland war es aber immerhin noch sehr gut. In der letzten Zeit bin ich wie Ihr seht des Öfteren mal zum Geige spielen gekommen ... Meine Zehe war gar nicht so sehr schlimm als ich erst dachte, jetzt merke ich schon gar nicht mehr all zu viel davon.

Rußland, d. 12.6.43
Die Musikinstrumente sind immer noch nicht hier eingetroffen. In Briansk sind sie allerdings schon. Bin gespannt ob es überhaupt was Rechtes wird. Erst sollten wir uns in Briansk einige Wochen wieder einspielen, aber unser Oberleutnant sagte dann, das könnten wir ja auch bei der Truppe machen. Wenn es dann heute oder morgen – es kann ganz schnell gehen – wieder vor geht, bin ich gespannt was dann wird. Horsts Kapelle hat während des ganzen Jahres Musik gemacht. Nur hier bei diesem traurigen Haufen – ein Jammer, daß ich hier gelandet bin – will es nichts werden ... Wenn ich manchmal vergleiche wie es bei anderen Musikkorps zugeht, an Leipzig darf ich garnicht zurückdenken, so sage ich mir, es ist eine Strafe, ausgerechnet zu diesem Haufen gekommen zu sein. Jetzt liegen wir sozusagen in Ruhe, aber man hat keinen Augenblick Freizeit. Alles jammert weil niemand mehr zum Schreiben kommt. Von früh 7 bis abends 7 geht es immer feste weg. Während der Mittagspause muß man Wäsche waschen und dergleichen. In der Kaserne konnte man dann wenigstens abends bei Licht noch schreiben. Das geht doch aber in einem Zelt bei dem hiesigen Fliegerbetrieb nicht. Trotz allem bin ich aber noch gesund, was ja die Hauptsache ist.

[Mit »Horsts Kapelle« ist laut Brief vom 19. Mai 1943 das Musikkorps von Graefes »Nachbarregiment« gemeint, geleitet von Musikmeister Horst Schumann, einem guten Bekannten von Graefe.]

Rußland, d. 11.7.43
Und wieder ist ein Sonntag ... Daß augenblicklich an der Ostfront etwas los ist, werdet Ihr sicherlich aus den Wehrmachtsberichten erfahren haben. Das ist ein Gebrumme und Getöne von Flugzeugmotoren ... Aus der Ferne hören wir Artillerie-Trommelfeuer. Es ist aber mindestens noch 30 km von uns weg. Uns kommt es ganz eigentümlich vor, die Kampfhandlung aus dieser Entfernung zu erleben. Ich bin gespannt wann wir wieder zur Truppe zurückmüssen. Kameraden die von vorn kommen berichten mit Begeisterung von unseren neuen Panzern ... Heute werden wir von 10–11 Uhr ein kleines Platzkonzert veranstalten. Die Musik ist nicht viel wert. Überhaupt es fehlt hier vollkommen die nötige Orchesterdisziplin, wie ich sie von Giltsch her gewohnt war.

Rußland, d. 29.7.43
Wie Ihr sicher wißt ist im Raume Orel allerhand los. Daher kam es, daß unserem beschaulichen Leben mit Musikproben ein Ende gemacht wurde und die Musiker nach vorn mußten. 4 Mann mußten aber bei unseren Instrumenten und den 3 Gespannen bleiben. Zufällig war ich da mit dabei. Am selben Tage noch als das Musikkorps nach vorn zog wurde auch der Stützpunkt wo wir lagen weiter hinter verlegt. Nach umständlicher 8tägiger Bahnfahrt sind wir nun am Ziel angelangt.

Rußland, d. 1.8.43
Es ist Sonntag Nachmittag ... Ich hoffe, daß Ihr alle noch gesund seid und es Euch auch sonst gut geht. Mir geht es auch immer noch gut. Hoffentlich auch den Kameraden, die zum Einsatz vor mußten, wir haben noch keine Nachricht wieder von vorn. Unsere Arbeit hier besteht vorläufig aus Instrumente in Ordnung bringen. Diese hatten auf dem Transport nach hierher durch sehr ungünstiges Wetter, es waren fortwährend wolkenbruchartige Regengüsse, sehr gelitten. Auf offenen Waggons hatten die Instrumenten-Kisten nicht genügend Schutz. Als wir diese hier öffneten war alles von Schimmel und Moder belegt. Aber jetzt haben wir den größten Teil wieder vollkommen in Ordnung ... Ich hoffe, der Krieg hat die längste Zeit gedauert. Hauptsache ist natürlich, daß wir nicht wieder so ein Ende erleben wie es 1918 gewesen ist.

[Dem Brief ist von anderer Hand hinzugefügt: »geschrieben in Bobruisk« (heute Babrujsk, Weißrussland).]

Rußland, d. 23.8.43
Nicht für einen Angsthasen, wie Vati schreibt, halte ich Mutti, wenn sie bei Zeiten sich auf eventuelle Luftangriffe auf Leipzig vorbereitet und Vorsichtsmaßna[h]men ergreift. Der Gedanke dann nach Döben zu marschieren ist mir auch schon leise gekommen. Macht dies nur so, dann bin auch ich viel beruhigter, wenn ich Euch in Sicherheit weiß. Richtig ist weiterhin wenn meine Geige mitgenommen wird, man weiß nicht was kommen kann. Musikinstrumente wird es sicher nach dem Krieg nicht mehr in rauhen Mengen geben, und gebaut werden wahrscheinlich erst wichtigere Sachen als Geigen ... Mir selbst geht es zur Zeit immer noch gut. Wie Ihr wißt bin ich zur Sicherung der Eisenbahnlinie gegen Partisanen eingesetzt. Ich liege mit 9 deutschen und 10 Ungarischen Kameraden auf einem Stützpunkt in der Nähe der Beresina. Unsere Aufgabe ist es die Gleisanlagen vor Sprengungen durch Banditenhand zu vermeiden. Dazu müssen wir nachts Lauerstellungen am Bahndamm beziehen und wach sein, sehr wach sein.

Rußland, d. 31.8.43
Nun ist auch Euere hundertste Briefsache bei mir eingetroffen. Ich muß schon sagen, daß Ihr sehr fleißig geschrieben habt. Ihr habt im Monat durchschnittlich 12 mal geschrieben, also aller 2 bis 3 Tage. Ich konnte Euch leider nicht in demselben Maße danken. Aber hoffentlich wird es bald so wie Ihr schon schreibt, daß wir bald nicht mehr Feldpostbriefe schreiben brauchen, weil der Frieden einen Schlußstrich zieht. Der Krieg beginnt nämlich allmählich in ein Stadium einzutreten in dem er keine rechte Begeisterung mehr hervorruft. Ich denke da hauptsächlich an die Verwüstung unserer schönen Städte und die Leiden denen Zivilisten ausgesetzt sind.

Rußland, d. 12.9.43
Ich habe inzwischen mal 2 Tage krank gemacht. Durch das an der Bahn Herumliegen hatte ich mir den Magen erkältet ... Aber jetzt ist es wieder vorbei und mein Magen ist wieder verdauungsfähig, sogar für solche Sachen wie sie jetzt in Italien passieren. Na, langsam wird aber aus dem größten Optimisten ein Pessimist ... Die Partisanenangelegenheit hat sich nun auch erledigt. Am 15.9. rollen wir mit einem Transport, allerdings nicht mit den Instrumenten, wieder nach vorn ... Elfriede, weißt Du welchen Film ich ganz gern wieder einmal sehen möchte: »Petersburger Nächte«. Es war einer der ersten Filme die wir gemeinsam sahen. Damals fuhren wir immer in die Alberthalle. Manchmal mußten wir schnell machen, daß wir beim Einlaßdienst vorbeikamen weil Elfriede noch nicht »Erwachsen« war. Einmal fanden wir auf dem Nachhauseweg ein Portemanne [!] und wir gaben es gleich beim nächsten Schutzmann ab. Falls es nicht abgeholt würde, verzichteten wir auf den Gewinn und stellten den Betrag, es waren wohl 1,78 M dem Roten Kreuz zur Verfügung. Da soll mal einer sagen wir wären keine Nationalsozialisten! Damals machte aber der Krieg noch mehr Spaß als heute. Wenn man in den Wochenschauen die fortschreitenden Erfolge unserer Truppen sah, dachte man nie, daß der Krieg noch solche Ausmaße erreichen würde. Aus dem [Radio] in der nebenanliegenden Stube erklingt seit dem Verrat Italiens ein Marsch nach dem andern. Ja, große Zeit, neue Zeit, nur mal umgekehrt.

Rußland, d. 22.9.43
Heute bin ich bei meinem alten Haufen angekommen ... Was hat sich nicht alles, seit wir von hier weg sind, verändert. Auch beim Musikkorps hat sich allerhand ereignet. Da das andere Musikkorps im August schwere Ausfälle gehabt hat wurden beide Musikkorps zusammengeworfen und Musikmeister Schumann hat die Leitung ... Wenn ich nicht jetzt zu der neuen Kompanie kommen würde, hätte ich Aussicht gehabt bald mal auf Urlaub heim zu kommen. So fällt es nun wieder ins Wasser.

Mit diesem Brief endet die Feldpostsammlung, die Artur Graefes Frau Ilse bis zu ihrem Tod vor drei Jahren aufgehoben hat und die heute im Gewandhaus verwahrt wird. 1946 kehrte Artur Graefe aus der Kriegsgefangenschaft zurück. In seinem Lebenslauf vom gleichen Jahr schrieb er: »Während des Krieges war ich bis 1942 in Leipzig, vom Juni 1942 bis zu meiner Verwundung im Dezember 1943 im Osten, ab 20. Juni 1944 und nach der Kapitulation in Norwegen. Am 6. Juli 1946 wurde ich aus dem Quarantänelager Hoyerswerda entlassen. Ab 12.7.46 versehe ich den Dienst wieder beim Stadt- und Gewandhausorchester. Ich war kein Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen.«
Graefe war einer der 20 Gewandhausmusiker, die ab 1939 zum Kriegsdienst eingezogen worden sind. Sieben von ihnen kehrten nicht zurück: Fünf fielen, zwei wurden als vermisst gemeldet.
Die anderen Mitglieder des Stadt- und Gewandhausorchesters hatten Glück. Am 25. August 1944 teilte der Präsident der Reichsmusikkammer mit: »Bei den Massnahmen für den totalen Kriegseinsatz ist dahin entschieden worden, dass Ihr Orchester eines von den wenigen Orchestern ist, das nicht stillgelegt werden soll.« Für die 78 festangestellten Musiker und die 18 »Kriegsaushilfen« hieß das: Sie wurden als unabkömmlich vom Kriegsdienst freigestellt, hatten sich einzig an der »Stadtwacht« in Leipzig zu beteiligen.
Artur Graefe gehörte bis zum Rentenalter, das er 1979 erreichte, dem Gewandhausorchester an. Am 29. Mai 1999 starb er in Leipzig. Er wäre dieser Tage, am 11. Mai 2014, hundert Jahre alt geworden.

Briefe (in originaler Schreibweise wiedergegeben): Artur Graefe;

Auswahl und Kommentare: Claudius Böhm