Interview mit Baiba Skride

Mit drei trat sie mit ihren beiden Schwestern als Gesangstrio auf, mit 13 flog sie allein nach Amerika: Baiba Skride hat Reise- und Auftrittserfahrung in reichem Maße. Wir trafen uns mit der Geigerin in Hamburg zum Gespräch.

Frau Skride, 2009 sind Sie zum ersten Mal in Leipzig aufgetreten, gemeinsam mit Ihrer Schwester Lauma. Wie ist es, mit der Schwester zu musizieren?
Baiba Skride: Das ist ein großes Glück und ein sehr schönes Gefühl! Man kann sich hundertprozentig aufeinander verlassen, weil man ganz genau weiß, wie der andere auf der Bühne tickt. Bei anderen Leuten weiß man das anfangs nicht. Jeder hat eine andere Art und Weise, auf den Stress zu reagieren. Wenn man aber wie Lauma und ich seit 30 Jahren zusammen spielt, kann man auch bestimmte Risiken eingehen.

Schwestern sind sehr nah beieinander. Wie gehen Sie mit kritischen Dingen um?
Skride: Wir sind nicht so, dass wir bei Problemen gleich laut werden oder streiten. Vielleicht ist das typisch lettisch. Wir halten uns lieber zurück. Natürlich haben wir drei Schwestern uns viel gestritten als Kinder. Oft haben sich zwei gegen die dritte verbündet – bis eine von uns Ärger mit den Eltern bekam. Da standen wir drei wie eine Front.

Jetzt sind Sie Mutter und zugleich eine weltweit gefragte Geigerin. Wie bringen Sie das überein?
Skride: Mein Mann kümmert sich um die Kinder, wenn ich nicht da bin. Wir wollten nicht, dass unsere Kinder mit fremden Nannys aufwachsen, deswegen haben wir uns bewusst so entschieden. Ich reise zeitlich so eng wie möglich zum Konzertort, morgens früh statt schon am Vorabend, und genauso auch wieder zurück. Bin ich zu Hause, bin ich wiederum ganz für die Kinder da. Ich übe, wenn sie im Kindergarten und in der Schule sind. Das hat sich alles so eingespielt. In jeder Familie muss man einen Weg finden, wie das geht.

Sicher war es nicht leicht, erst einmal einen Rhythmus zu finden?
Skride: Mit dem ersten Kind war es noch ein bisschen schwieriger. Das geht allen Eltern so. Mit dem zweiten war es schon eingespielter. Jetzt ist unser großer Sohn gerade eingeschult worden. Das heißt, ich kann ihn nicht mehr spontan mal mitnehmen auf eine Konzertreise. Umso genauer plane ich. Schon vor zwei Jahren wusste ich, wann die Schulferien sind, und habe das mit berücksichtigt. Man kann sich nicht in allem danach richten, aber die Sommerferien zum Beispiel habe ich weitgehend freigehalten, damit wir etwas mit den Kindern machen können. Das ist Organisationssache wie bei jeder anderen Familie auch. Wenn beide Eltern von neun bis fünf arbeiten, ist es auch nicht unbedingt leichter.

Sie treten nahezu jede Woche auf, und das mit jeweils wechselnden Stücken. Wie machen Sie das?
Skride: Als ich jung war, war es bei mir wie bei vielen anderen Geigern: Ich habe ein Stück ein paar Monate lang einstudiert und es dann mehrmals gespielt. Mit der Zeit jedoch häufen sich die Werke an, die man schon einstudiert hat. Man muss sie natürlich immer wieder auffrischen, das ist klar. Manche verschwinden komplett aus dem Kopf – meist die, die man später einstudiert hat. Dagegen kann ich alles, was ich als Kind gelernt habe, aus dem Schlaf heraus spielen. Wenn dann ein Konzert bevorsteht, befasse ich mich wieder intensiver mit dem betreffenden Werk. Manchmal höre ich mir auch Aufnahmen an. Denn sobald man das Stück selbst spielt, verliert man komplett seine Objektivität. Man kennt das Stück so genau, dass man keine Ahnung mehr hat, wie es sich als Ganzes anhört. Neulich habe ich das Schubert-Streichquintett zum ersten Mal gespielt. Da habe ich, bevor ich angefangen habe zu üben, noch einmal das Stück genossen. Denn ich wusste: Sobald man beginnt, jede Kleinigkeit zu durchbohren, hört man es nie wieder so, wie man es quasi als Außenstehender hört.

Mit sieben Jahren haben Sie erstmals einen Wettbewerb gewonnen. Ihr ältester Sohn ist jetzt fast sieben. Er müsste nächstes Jahr seinen ersten Wettbewerb gewinnen, wenn er einen ähnlichen Weg gehen sollte wie Sie. Wünschen Sie Ihren Söhnen diesen Weg?
Skride: Ich werde ihnen nichts aufzwingen. Mein großer Sohn hat sich nie für die Geige interessiert. Aber er hat vor einem halben Jahr angefangen, Gitarre zu spielen. Jetzt merke ich, dass er unbewusst doch viel mitbekommen hat, wenn ich ihn auf Reisen, beim Üben oder in Proben dabei hatte. Er hat ein enormes Talent und kommt sehr schnell voran. Aber ich weiß nicht, ob es notwendig ist, ihn zu Wettbewerben zu schicken. Es ist heutzutage anders als bei uns damals in Lettland. Zu Sowjetzeiten war alles an Wettbewerbe geknüpft. Wenn man ins Ausland gelassen werden wollte, musste man Wettbewerbe gewinnen – erst den Schul-, dann den Stadt- und schließlich den Landeswettbewerb. Erst damit hatte man die Chance, auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs zu gelangen. Der Wille rauszukommen war so groß, dass man schon als Kind angefangen hat, darauf hinzuarbeiten. Für mich war dieser Weg also von den Umständen abhängig.

Mit 14 haben Sie an der Musikhochschule in Rostock zu studieren begonnen. Wie war das?
Skride: In Deutschland zu sein, war etwas Besonderes. Ich habe auch selbst gespürt, dass ich diese weitere Ausbildung durch die Lehrer in Rostock brauchte. Das war sehr wichtig. Und mit 14 bereits Studentin zu sein, fand ich ebenfalls schön. Jetzt war ich sozusagen erwachsen.

Das ständige Hin und Her zwischen Riga und Rostock hat Sie nicht genervt?
Skride: Ich war schon immer gern unterwegs und bin es heute noch. Nur die Busreisen habe ich gehasst. Das war so schlimm, in diesen stinkenden Bussen zu fahren. 23 Stunden von Riga bis Berlin – zweimal im Monat haben wir das gemacht, hin und zurück. Ansonsten aber war ich das Reisen schon gewohnt. Durch die Wettbewerbe und Meisterkurse sind wir viel unterwegs gewesen. Ich bin mit 13 sogar allein nach Amerika geflogen, zu einem Festival. Da habe ich in Frankfurt die Nacht auf dem Flughafen verbracht. Geld für ein Hotel hatte ich nicht. In Amerika musste ich auch noch umsteigen. Mit 13! Heute wäre das undenkbar. Ich würde mein Kind nicht allein, ohne Handy und faktisch ohne Geld nach Amerika reisen lassen. Damals jedoch war es eine tolle Möglichkeit. Ich hatte ein Stipendium für das Festival bekommen, da musste ich selbstverständlich hin.

Hatten Sie Heimweh in Rostock?
Skride: Teilweise schon. Aber zu Hause war ich in keiner besonders guten Situation. In der Schule gab es viele, die neidisch auf meine Wettbewerbserfolge waren. In Rostock dagegen hat mir keiner etwas geneidet oder sich negativ über mich ausgelassen. Insofern war ich dort viel glücklicher. Da ich keine engen Freunde zu Hause hatte, war das für mich kein Problem. Es war eher spannend: Ich war so jung und durfte zeitweise schon allein wohnen. Und ich habe wirkliche Freunde in Deutschland gefunden.
Konnten Sie da schon so gut Deutsch wie heute?
Skride: Im ersten Jahr war meine Mutter mit in Rostock, und sie hat immer übersetzt. Als ich dann aber allein nach Rostock gefahren bin und mit den Kommilitonen reden wollte, da ging es auf einmal. Ich weiß nicht, wie das kam. Meine Oma fand Deutsch immer sehr wichtig. Sie hat mir als Kind schon deutsche Bücher vorgelesen und ein bisschen Grammatik beigebracht. Aber wenn man keine Wörter kennt, nützt Grammatik nichts. Ich weiß wirklich nicht, wie ich Deutsch gelernt habe.

Lassen Sie uns bitte von Ihrer Geige reden: Sie spielen mittlerweile die dritte Stradivari. Von der zweiten haben Sie damals sehr geschwärmt, ihr eine richtige Liebeserklärung gemacht ...
Skride: Und jetzt habe ich mich neu verliebt. Die zweite war eine fantastische Geige. Zu jenem Zeitpunkt, als ich mit den großen Orchestern zu spielen begonnen habe, hat sie perfekt zu mir gepasst. Ich war zwar sehr traurig, als ich sie nach der vereinbarten Leihdauer abgeben musste. Aber ich hatte das ja immer gewusst. Ich weiß auch, dass ich die Geige, die ich jetzt habe, irgendwann abgeben muss. Das erleichtert den Trennungsprozess. Außerdem finde ich es gar nicht verkehrt, in jungen Jahren mehrmals die Geige zu wechseln. Von jeder Geige habe ich viel gelernt. Allerdings hatte ich noch keine länger als zehn Jahre und kann es daher nicht beurteilen, wie es ist, wenn man sein eigenes Instrument hat, das man auch vom Geigenbauer in den technischen Einstellungen wie Steghöhe, Saitenabstand und so weiter für sich optimieren lassen kann. Bei den geliehenen Geigen darf ich nichts verändern lassen. Aber durch diese Unfreiheit lerne ich wiederum, mit dem Instrument umzugehen.

Ihre jetzige Geige ist eine Leihgabe von Gidon Kremer. Er hat sie jahrelang selbst gespielt. Hat er Spuren auf dem Instrument hinterlassen?
Skride: Ich finde schon. Vielleicht liegt es auch daran, dass Gidon das Instrument für sich ausgesucht hat, das gut zu seiner Spielweise passt. Es kommt mir jedenfalls so vor, dass es eine Gidonsche Spielweise braucht mit viel Luft und nicht zu viel Druck. Gidon hat ja einen einzigartigen Klang mit einer ganz besonderen Sanftheit und Zerbrechlichkeit. Dieser Geige liegt so etwas. Bestimmte Schwingungen bringen eine Geige über die Jahre in eine gewisse Richtung. Wenn sie zum Beispiel immer laut sein muss, klingt sie mit Sicherheit anders, als wenn sie meist leise gespielt wird. Oder wenn sie im Museum gestanden hat, da klingt sie zunächst gar nicht und muss erst wieder eingeschwungen werden. Das sieht man auch bei Gidons Geige. Bevor ich sie bekam, ist sie schon lange nicht mehr von ihm, sondern von Musikern seines Orchesters »Kremerata Baltica« gespielt worden und nicht mehr solistisch. Jetzt nach den vier Jahren, die ich sie spiele, klingt sie schon anders.

Wie kam es zu der Leihgabe?
Skride: Ich habe Gidon zweimal in meinem Leben getroffen. Einmal vor über zehn Jahren in Lockenhaus und einmal bei seinem Festival in Lettland, was auch schon zehn Jahre her ist. Er hat von einem Geigenbauer gehört, dass ich eine Geige suche, und mir daraufhin angeboten, mal seine zu probieren. Wenn sie mir gefiele, könnte ich sie mitnehmen. So einfach war das. Wir haben das natürlich mit der Versicherung geregelt. Aber das war auch unkompliziert. Er wollte mir schlicht helfen. Ich schreibe ihm ab und zu E-Mails, wie es der Geige geht.

Gidon Kremer ist ein Landsmann von Ihnen. Macht das die Geige doppelt wertvoll für Sie?
Skride: Das ist ein schöner Gedanke, der da mitschwingt. Das erste Konzert, das ich mit dieser Geige gespielt habe, war im Herbst 2010 in München Sofia Gubaidulinas Violinkonzert »Offertorium«. Dieses Konzert hat Gidon mit dieser Geige aufgenommen, vielleicht sogar mit ihr uraufgeführt. Das sind sehr schöne Parallelen.

Über Geigen sprechen wir viel, über Bögen dagegen kaum. Spielen nicht auch sie eine wichtige Rolle?
Skride: Unbedingt. Aber das ist ein kompliziertes Thema. Ich habe keinen tollen Bogen. Solange ich nicht weiß, welche eigene Geige ich einmal spielen werde, kann ich auch keinen speziellen Bogen finden. Jede Geige braucht einen anderen Bogen. Im Moment wechsle ich zwischen drei verschiedenen Bögen. Der gerade die meisten Haare drauf hat, mit dem spiele ich.

Zu diesem komplizierten Thema gehören die rigorosen Ein- und Ausreisekontrollen in den USA im Zuge des Artenschutzabkommens. Welchen Bogen nehmen Sie nach Amerika mit?
Skride: Mein Geigenbauer hat mir speziell dafür einen Bogen ausgeliehen, bei dem kein Elfenbein oder Schildpatt verarbeitet ist.

Auf Reisen müssen Sie stets gut auf die Stradivari aufpassen. Ist das ein besonderer Stressfaktor?
Skride: Nicht wirklich. Wobei es nicht immer leicht ist, mit diesem Kasten zu reisen. Man hat inzwischen seine Erfahrung, mit welchen Airlines man lieber nicht fliegt, weil dort Umstände gemacht werden, wenn man die Geige als Handgepäck mitbringt. Man muss teilweise auch ein bisschen frech sein. Ich versuche immer, als eine der Ersten in das Flugzeug zu kommen, um einen guten Platz für die Geige zu finden. Und ich bin jedes Mal froh, dass ich nicht mit einem Cello fliegen muss.

Respektieren die Zollbeamten die Besonderheit des Instruments, oder greift da jemand einfach mal zu?
Skride: Wenn jemand einfach so zugreift, dann werde ich ganz sauer. Dann schreie ich ihn fast an: »Nicht anfassen!« Meistens sind sie jedoch zivilisiert und fragen erst einmal. In Brasilien hatte ich so ein Erlebnis. Dort ist es auch ein riesiger Aufwand, mit einem Instrument einzureisen. Da muss ein Stapel von Formularen ausgefüllt werden – ein Bürokratiewahnsinn! Ungefähr eine Stunde stand ich bei dem Beamten. Am Ende fragte er, ob er die Geige einmal halten dürfte. Ich wollte ihm nicht widersprechen, weil ich ein bisschen Angst hatte, er würde sonst die Dokumente nicht bestätigen. Also sagte ich: »Gut, wenn ich die Geige von unten mithalte, dürfen Sie es.« Er nahm sie ganz vorsichtig in die Hand – und machte ein Foto. Das war alles. Er wollte ein Foto von sich mit der Stradivari.

Sie arbeiten oft mit Andris Nelsons zusammen, der ebenfalls ein Landsmann von Ihnen ist. Offenbar sprechen Sie mit ihm auch musikalisch eine gemeinsame Sprache?
Skride: Gerade musikalisch! Wir verstehen uns sehr gut, haben privat aber so gut wie nichts miteinander zu tun. Auf der Bühne ist es mit ihm ein bisschen so wie mit meiner Schwester: Ich kann mich zu hundert Prozent auf ihn verlassen. Zugleich inspiriert er mich immer auch. Das ist der große Unterschied zwischen Andris und vielen anderen Dirigenten: Er begleitet nicht nur perfekt, sondern inspiriert mich jedes Mal mit neuen Sachen. Ich merke auch: Das Orchester hat eine bestimmte Energie, wenn Andris vor ihm steht. Das macht viel Spaß. Ich bin froh, so jemanden in meinem musikalischen Leben zu haben.

Ihre gemeinsame Heimatstadt Riga hat eine reiche Musikgeschichte. Wie ist dort das Musikleben heute?
Skride: Immer noch sehr vielfältig und interessant. Es gibt drei Orchester in Riga und eine fantastische Oper. Es ist ungemein viel los in der Stadt. Ich hatte überlegt, dort ein Festival zu gründen. Doch es gibt keinen einzigen Tag im Jahr, der nicht schon mit einer musikalischen Veranstaltung belegt wäre. Da wäre es unsinnig, das Publikum zu spalten.

In Lettland soll es in den 90er Jahren über 90 Musikschulen für die zweieinhalb Millionen Einwohner gegeben haben. Stimmt das?
Skride: Das stimmt. Eigentlich hatte jedes Dorf eine Musikschule. Allein in Riga gab es in jedem Stadtteil eine. Kinder mussten eine Musikschule besuchen, das war früher normal. Inzwischen sind wie überall auch in Lettland staatliche Fördergelder für Kulturelles gestrichen worden. Ich weiß nicht, wie viele Musikschulen das überlebt haben.

Sind die Letten ein besonders musikalisches Volk?
Skride: Ich glaube schon. Das sieht man immer am »Lettischen Liederfest«, einem Chorfestival, das alle fünf Jahre stattfindet. Das ganze Land ist interessiert an diesem Fest. Jeder kennt lettische Volkslieder, jeder kann einige mitsingen. Das liegt offensichtlich in unseren Genen.

Welche Auswirkungen hat diese besondere Erbanlage?
Skride: Das Singen zieht sich durch unsere Geschichte. Das Lettische Liederfest zum Beispiel gibt es jetzt seit 140 Jahren. Es existierte also schon, bevor Lettland als Staat überhaupt akzeptiert worden ist. Durch das Singen sind auch die verschiedenen Teile Lettlands zusammengebracht worden. Das Singen hat alles überlebt, selbst die Sowjetzeiten. Und es hat mit zur Befreiung unseres Landes geführt. Nicht von ungefähr wird von der »Singenden Revolution« gesprochen, wenn es um die Ereignisse bis zum August 1991 geht. Ich selbst kann mich noch gut an die Tage in Riga erinnern, als die Stadt verbarrikadiert wurde. Da standen die Leute vor den Barrikaden. Und was taten sie die ganze Zeit auf der Straße? Sie sangen. Das hatte auch eine psychologische Wirkung auf die russischen Soldaten: Die konnten mit ihren Panzern keine singenden, unbewaffneten Menschen überfahren. Die Musik hat immer eine tiefe Bedeutung für unser Land gehabt, sie ist unsere Stärke. Durch Singen kriegen wir, was wir wollen.

Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine – erst recht angesichts der Drohung Wladimir Putins, in zwei Tagen könnten seine Truppen auch in Riga, Vilnius, Tallinn oder Warschau sein?
Skride: Schon von Anfang an habe ich mir gedacht, dass es in diese Richtung geht. Wir in Lettland kennen gut aus unserer eigenen Geschichte, was da passiert ist: Truppen, die getarnt ins Land kommen, um zu provozieren. Lettland ist ein kleines Land, nicht weit von Russland entfernt. Wenn Putin entscheiden würde, bei uns einzumarschieren, könnte er das so schnell tun, dass die NATO uns gar nicht verteidigen könnte. Ich halte die Situation für sehr gefährlich. Bei Russland kann man nicht hundertprozentig sicher sein, was es macht. Leider haben viele das in den letzten Jahren unterschätzt.

Wenn Sie vor diesem Hintergrund ein dereinst politisch benutztes Werk wie Prokofjews zweites Violinkonzert spielen, wie geht es Ihnen damit?
Skride: Musik kann man interpretieren, wie man möchte. Ich messe dem keine Bedeutung bei, ob sie aus Russland kommt oder ob sie für Zwecke, die ich nicht gut finde, benutzt worden ist. Musik ist Musik. Musik ist für alle da, sie ist eine Weltsprache, und Gott sei Dank haben wir sie. Ich bin mit russischer Musik aufgewachsen und liebe sie. Ich bin froh, dass ich Prokofjew spielen kann oder Schostakowitsch oder Tschaikowski. Interessant finde ich zum Beispiel bei Schostakowitsch: Man merkt es der Musik an, dass er durch sie vieles gesagt hat, was er nicht aussprechen durfte. Oft sind gerade in schweren Zeiten, die für Seele und Geist der Menschen schrecklich waren, geniale Werke geschaffen worden. Es wäre zwar schlimm zu sagen: Gut, dass es diese Zeiten gab. Die Nachkriegszeit muss furchtbar gewesen sein in der Sowjetunion. Aber es ist enorm, was diese Zeit an Komponisten wie auch an Interpreten hervorgebracht hat.

Welches der beiden Violinkonzerte von Prokofjew ist Ihnen das liebere?
Skride: Das kommt auf die Tagesverfassung an. Das erste ist verträumter, inniger als das zweite. Es hat kein effektvolles Ende. Aber es ist sehr melodisch. Das zweite ist direkter als das erste. Schon der Anfang ist eine eindrückliche Aussage, die man nicht einfach vergisst. Und der zweite Satz ist ein Traum! Ich kenne keinen Satz von Prokofjew, der harmonisch so schön ist. Aber welches der beiden Konzerte mir lieber ist, kann ich nicht sagen. Das sind zwei Welten.

Interview: Claudius Böhm