Interview mit Kreuzkantor Roderich Kreile

Ich kann mir auch eine Thomaskantorin vorstellen

Herr Kreile, in Leipzig wird ein neuer Thomaskantor gesucht. Wenn Sie der Findungskommission etwas mit auf den Weg geben könnten, was wäre das?
Roderich Kreile: Eine solche Findungskommission steht vor einer schweren Aufgabe. Zunächst sind Grundsatzentscheidungen zu treffen. Schreibt man die Stelle aus, bewerben sich viele, aber man bekommt nicht alle, die in Frage kommen. Manche, die hervorragend geeignet wären, sind in Positionen, aus denen heraus sie sich gar nicht bewerben würden. Wenn ich zurückblicke auf die Situation, die zu meiner Wahl führte, haben es die Dresdner aus meiner Sicht geschickt gemacht. Man hat eine große Kommission aus Fachleuten gebildet, die gesamtdeutsch besetzt war und in der Chorleiter, Dirigenten und Kirchenmusiker vertreten waren. Diese Kommission hat die Vorschläge aus den eigenen Reihen gesammelt und diskutiert, bis am Ende drei Kandidaten übriggeblieben sind. Man hat also sehr viel Aufwand getrieben, konnte dann aber halbwegs sicher sein, dass keine geeignete Person durchs Raster gefallen ist.
In Leipzig muss man jetzt auch überlegen, ob das Profil des Thomaskantors so, wie es bisher war, zukunftsträchtig ist oder ob man neue Strategien einschlagen möchte. Meine persönliche Meinung ist, man sollte die Richtung im Grundsatz beibehalten. Aber das muss die Stadt Leipzig für sich selbst prüfen. Ebenso die Frage, welche Kapazitäten man für das Findungsverfahren hat. Drei Kandidaten halte ich für eine gute Zahl. Mehr als fünf sollten es nicht sein.

Wann könnte es realistischerweise einen neuen Thomaskantor geben?
Kreile: Erst einmal haben es die Leipziger gut gemacht. Sie haben mit Gotthold Schwarz einen anerkannten, sehr guten Mann engagiert, der als Interimskantor in Ruhe die Geschicke des Chores leiten kann. Dadurch ist Zeit gewonnen, und Zeit braucht man. Die Findungskommission wird wohl den Herbst nutzen, um sich Eindrücke von möglichen Thomaskantoren zu verschaffen, und spätestens im Frühjahr 2016 Kandidaten ansprechen. Im Sommer 2016 könnten dann die Vorstellungsrunden sein, wie auch immer die geplant sind. Ich denke, Anfang 2017 könnte das Amt neu besetzt werden. Ein Thomaskantor – und in modernen Zeiten sage ich auch: eine Thomaskantorin – wird ja nicht arbeitslos auf der Straße sitzen, sondern sich in Vertragsverhältnissen bewegen.

Sie haben mit Georg Christoph Biller mehrfach zusammengearbeitet. Was bedeutet sein Abschied aus dem Amt für Sie?
Kreile: Seinen Abschied habe ich mit großem Bedauern zur Kenntnis genommen. Wir haben nahezu deckungsgleiche Ansichten darüber, was Knabenchöre heutzutage darstellen und welche Rolle sie in der Gesellschaft spielen können. Wir sind beide der Ansicht, dass eine Anbindung an das christlich-humanistische Wertesystem mit einer Kirche als geistlich-geistigem Zentrum wichtig ist sowohl für die Stabilität unserer Chöre als auch für ihre Attraktivität als Bildungsweg für die Kinder, die zu uns kommen. Wir haben beide städtische Trägerschaften und in vielerlei Hinsicht die gleichen Probleme zu behandeln gehabt. Wir haben uns gut austauschen können und gut verstanden. Der Thomaskantor ist ja, zumindest auf dieser Ebene, mein einziger Kollege in Sachsen.

Biller kommt als ehemaliger Thomaner aus der Chorknabentradition. Wie war Ihr Weg zur Musik?
Kreile: Ich komme aus einem musischen Münchner Elternhaus und habe als Junge Klavier- und Geigenunterricht gehabt. Als 16-Jähriger bin ich auf die Orgel gestoßen und war daraufhin für den Rest der Welt verloren. Nach Abitur und Zivildienst habe ich Kirchenmusik studiert, danach noch ein Zusatzstudium in Berufschorleitung gemacht und bin dann in München meinen Weg gegangen. Mit Knabenchören hatte ich dort nichts zu tun. Als ich eingeladen wurde, nach Dresden zu kommen, hatte ich zwei Dresdner als Gegenkandidaten und habe gedacht: Na, du bist halt der Alibi-Wessi. Für mich war dann aber die Begegnung mit den Kruzianern faszinierend. Dieses hohe Niveau hatte ich nicht erwartet. Endgültig eingeknickt bin ich, als nach dem letzten Gottesdienst meiner Kantoratsprobe eine Abordnung zu mir kam und mir ein Buch über den Kreuzchor überreichte, in dem alle Kruzianer unterschrieben hatten. So habe ich als 40-Jähriger München, wo ich mich sehr zu Hause gefühlt habe, verlassen und bin nach Dresden gegangen. Und ich habe es noch kein einziges Mal bereut.

Fanden Sie das Amt des Kreuzkantors, als Sie es 1997 antraten, durch die Querelen um Ihren Vorgänger Gothart Stier beschädigt vor?
Kreile: Nein. Bei Instituten, die nahezu 800 Jahre alt sind, geht die Zeit über so etwas schnell hinweg. Die Amtszeit von Gothart Stier verlief unglücklich. Aber das war keinesfalls ausschließlich und auch nicht zum Großteil Gothart Stiers Schuld. Da gärten Dinge, auch im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Umbrüchen, und eskalierten schließlich. Bei meinem Amtsantritt fand ich einen gut singenden Chor vor. Es gab im Umfeld meiner Wahl natürlich Bedenken gegen einen Bayern. Aber die Dresdner haben einfach geguckt: Läuft es mit dem Chor und dem Neuen? Und als es dann so aussah, als würde es laufen, war es gut.

Zwei Kandidaten von vor Ort und einer von auswärts – könnte das auch ein Modell für die Kantorenwahl in Leipzig sein? Oder sollte man generell viel weiter nach außen blicken?
Kreile: Aus den Reihen der ehemaligen Thomaner gibt es viele hervorragende Chorleiter. Eine Öffnung empfehle ich dennoch. Eine Berufung von außen mit anderen Hintergründen und anderen Erfahrungen kann bereichernd sein. Ich denke, das Wesentliche ist dabei das Persönlichkeitsprofil. Ein Thomaskantor wird in den nächsten Jahren viele Außenkontakte pflegen müssen, sollte geschickt sein im Umgang mit der politischen Ebene und muss pädagogische Fähigkeiten besitzen. Wichtiger denn je ist heute der Umgang mit den Eltern. Sie sind eine primäre Dialoggruppe für den Kantor. Da braucht es eine Persönlichkeit, die kommunikativ und initiativ wirken kann, die aber auch Gremienarbeit kennt und die »Fremdsprache« des politischen Dialogs beherrscht.

Vor drei Jahren wollte die Dresdner Stadtspitze Gelder aus der Kreuzchor-Stiftung für den Umbau des Kulturpalastes zweckentfremden. Sie haben das öffentlich gemacht. Was ist daraus geworden?
Kreile: Da habe ich mich tatsächlich drastisch geäußert und gestritten. Jetzt haben wir Regelungen gefunden: Unsere Stiftung hat Gelder für den Bau des Kulturpalastes gegeben, wir aber werden von der Stadt das, was ich mit diesen Mitteln vorhatte – nämlich den Anbau an unser Alumnat –, komplett bekommen. So haben wir eine Win-win-Situation schaffen können. Natürlich gibt es immer wieder solche Punkte, an denen man kämpfen und argumentieren muss. Ich bin Leiter eines städtischen Instituts, und manchmal sind die Töpfe, die die Stadt Dresden für die Kultur zur Verfügung stellt, sehr klein. Jetzt kämpfe ich gerade für das 91. Bachfest der Neuen Bachgesellschaft nächstes Jahr in Dresden. Doch das Überwinden von Schwierigkeiten halte ich für völlig normal in diesem Amt. Ich habe mich ja festgelegt: Ich arbeite hier, so Gott will und ich gesund bleibe, bis zum 65. Lebensjahr. Das sind noch sieben Jahre. Dann möchte ich einem Nachfolger ein gut bestelltes Haus hinterlassen. Im Moment habe ich keinen Grund zu fürchten, dass das nicht zu erreichen wäre.

Sie sind seit circa zwei Jahren amtierender Vorsitzender der Neuen Bachgesellschaft. Ein Amt, das man beim Kreuzkantor weniger vermutet.
Kreile: Zunächst einmal: Die Bach-Pflege beim Kreuzchor hat lange Tradition. Ich selbst habe als Organist Bachs Werke noch und noch gespielt. Bach ist Teil meines Lebens. In das Direktorium der NBG geholt worden bin ich auf Betreiben Diethard Hellmanns, meines Lehrers an der Münchner Musikhochschule. Als stellvertretender Vorsitzender habe ich mich dann auf Wunsch Martin Petzoldts engagiert. Nun waren die letzten zweieinhalb Jahre durch seine Krankheit überschattet. Ich habe mich bemüht, im Rahmen meiner Kräfte und Zeit die Geschäfte der Bachgesellschaft fortzuführen. Ich bleibe auch weiterhin gern derjenige, der unterstützt wie auch seine Kenntnisse und Verbindungen einbringt. Aber es ist gut, dass jetzt mit Christfried Brödel ein Nachfolger für Martin Petzoldt bereitsteht. Er wird sich, wenn das Direktorium während des 90. Bachfests der NBG in Leipzig tagt, zur Wahl stellen.

Nächstes Jahr wird das Jubiläum 800 Jahre Kreuzchor begangen. Die Einweihung der Basilika St. Nikolai als Vorläufer der Kreuzkirche fand allerdings 1215 statt. Warum wird erst 2016 gefeiert?
Kreile: Das Gründungsdatum 1216 wird schon seit Jahrhunderten im Chor kommuniziert, wir hatten immer Feiern zu den entsprechenden Daten. Wenngleich wir zugeben müssen, wir wissen es wirklich nicht, seit wann genau der Chor existiert. Aber wir beugen uns der normativen Kraft des Faktischen.

Der Festakt wird im März 2016 in der Semperoper gemeinsam mit der Sächsischen Staatskapelle stattfinden. Warum nicht mit der Dresdner Philharmonie, die Ihr hauptsächlicher Orchesterpartner ist?
Kreile: Ich arbeite sehr gern mit der Dresdner Philharmonie zusammen. Uns verbindet eine lange intensive Zusammenarbeit, die wir auch im Jubiläumsjahr fortsetzen werden. Aber ich arbeite bei manchen Projekten gern auch mit der Staatskapelle. Die Idee für den Festakt ist, dass sich hier die beiden ältesten Dresdner Musikinstitutionen vereinen. Kurz darauf werden wir gemeinsam bei den Osterfestspielen in Salzburg gastieren. In beiden Orchestern gibt es aber auch Leute, die gern auf historischen Instrumenten spielen. So machen wir vieles mit dem Dresdner Barockorchester, in dem auch Mitglieder der Philharmonie und der Staatskapelle spielen. Das schließt jedoch nicht aus, dass wir weitere Partner haben. Jetzt gerade sind wir in Gesprächen mit dem Freiburger Barockorchester für Beethovens Missa solemnis nächstes Jahr.

Nach Salzburg wird die Konzertbesetzung des Kreuzchors reisen. Die Hälfte der Kruzianer bleibt zu Hause. Sorgt das untereinander für Probleme?
Kreile: Nein, das ist Ansporn. Wir haben eine Chorübersicht, da sind die Jungs nach Leistungseinschätzung geordnet und jeder kann sehen, wie viele Plätze er noch von der Reisebesetzung entfernt ist. Wir haben den Chor übrigens auf 135 Sänger reduziert, weil es gar nicht mehr möglich ist, für 150 Jungen außerhalb der Probenzeiten Stimmbildung und Instrumentalunterricht durchzuführen. Entsprechend ist der große Reisechor auf etwa 70 Kruzianer reduziert. Es gibt auch kleinere Besetzungen, da reisen dann die Besten.

Was ist mit denen, die immer ein oder zwei Plätze hinter der Reisebesetzung bleiben?
Kreile: Denen muss man vermitteln, dass es toll ist, Mitglied im Dresdner Kreuzchor zu sein. Das ist eine pädagogische Aufgabe. Aber die Jungs haben selbst eine ganz gute Einschätzung ihres Leistungsvermögens und wissen, dass es Leute gibt, die auf diesem oder jenem Gebiet begabter sind.

Kreuzschule und Kreuzchor sind sich auf einer Art Campus räumlich sehr nahe. Wie funktioniert das Miteinander von evangelischer Schule und städtischem Chor?
Kreile: Durch die kirchliche Trägerschaft haben wir eine gewisse Gewogenheit der schulischen Seite dem Tun des Chores gegenüber. Was aber nicht verhindern kann, dass wir im Alltag immer mal Reibungspunkte haben. Die Schule will ihre Schüler im Unterricht haben, ich meine Jungs in den Chorproben und auf Reisen. Aber wir haben Arbeitskreise und Treffen auf den unterschiedlichsten Ebenen. Die Kommunikation hat sich in den letzten zehn Jahren beständig intensiviert. Wenn Sie allerdings den Campus ansprechen, so ist der unsere sehr überschaubar. Ich kann nicht verhehlen, dass ich mit Interesse auf die Entwicklung des Forums Thomanum in Leipzig blicke. Eine Kindertagesstätte zum Beispiel hätte ich auch gern dabei. Aber wir haben keine Ausdehnungsmöglichkeiten und können deshalb keine Campussituation wie in Leipzig herstellen.

Wie sieht es beim Kreuzchor mit dem Nachwuchs aus?
Kreile: Wir sind der einzige Knabenchor Deutschlands, der nicht klagt über die Nachwuchssituation. Zum einen, weil wir das für eine falsche Strategie halten, und zum anderen, weil es uns eigentlich gut geht. Nicht so gut wie zu DDR-Zeiten, aber wir haben genug Nachwuchs, so dass ich auswählen kann. Und ich habe den Eindruck, dass das eine wenigstens mittelfristig stabile Situation ist.

Wie viele Bewerber haben Sie pro Jahr und wie viele nehmen Sie auf?
Kreile: Wir haben 30 Bewerber jedes Jahr und nehmen in der vierten Klasse 18 bis 20 Schüler auf. Von denen kommen nach dem Probejahr in der Regel 16 weiter.

Ist die Entwicklung, dass der Stimmwechsel bei den Knaben immer früher einsetzt, inzwischen zum Stillstand gekommen?
Kreile: Ja. Man müsste natürlich, um statistisch verlässliche Aussagen treffen zu können, noch längere Zeiträume überblicken. Aber die Situation ist nicht mehr bedrohlich. Wir hatten Ende vergangenen Jahres die in meiner Amtszeit bisher einmalige Situation, dass die gesamte siebente Klasse noch im Knabenchor mitgesungen hat. Was klasse ist, weil die Siebtklässler viel geschulter und erfahrener als die Jüngeren sind.

Vor drei Jahren meinten Sie im Gespräch mit dem Gewandhaus-Magazin, der Klang von Kreuzchor und Thomanerchor sei bis in jüngere Zeit ähnlich gewesen. Worauf führen Sie das zurück?
Kreile: Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Erst einmal gibt es ein Klanggedächtnis in den Chören. Und dann glaube ich, dass das frühere Klangideal bei beiden Chören nicht so weit weg war von einem stimmlichen Ideal, wie man es auch im Sologesang gefunden hat. Die Dresdner aus dieser Zeit würden das wohl von sich weisen, wenn man sagt, die Thomaner und die Kruzianer klangen gleich. Hier wird immer an das Mauersbergersche Klangideal einer Silbermann-Orgel erinnert – also eine gewisse Rauigkeit, ein sehr starker Obertonreichtum und ein sehr kräftiges Singen. Aber das zeichnete beide Chöre aus.

Die Thomaner, sagten Sie damals, hätten sich vor allem in den 90er Jahren mit Georg Christoph Biller verändert.
Kreile: Hören Sie Biller einmal selbst singen. Er hat einen schönen voluminösen Bariton. Das hat auf den Thomanerchor abgefärbt und sich in den letzten Jahren als ein rundes Klangbild stabilisiert. Ich habe ein leichteres Klangideal mit einem höheren Obertonreichtum, und so klingt der Kreuzchor jetzt. Es ist auch gut so, dass sich die Knabenchöre unterscheiden.

Sie sprachen vorhin von einer Thomaskantorin. Was wird Ihrer Meinung nach eher geschehen: dass Mädchen in die sächsischen Knabenchöre aufgenommen werden oder dass eine Thomas- respektive Kreuzkantorin berufen wird?
Kreile: Auf absehbare Zeit wird wohl keine dieser zwei Möglichkeiten eintreten. Wenn, dann könnte ich mir eher vorstellen, dass eine Kantorin gewählt wird. Ich vertrete grundsätzlich die Ansicht, dass so etwas möglich sein muss. Man muss so etwas denken dürfen. Ob es realiter dazu kommt, weiß ich nicht.

Interview: Claudius Böhm, Hagen Kunze