Editorial

Drei Schwerpunkte hat dieses Heft: Richard Strauss, Riccardo Chailly und das Gewandhausorchester.

Um mit Letzterem zu beginnen: Zum vierten Mal veröffentlichen wir eine Porträtgalerie aller Mitglieder des Orchesters. Zuerst hatten wir das in unserer zweiten Ausgabe 1993 getan. Wer diese Nummer noch einmal zur Hand nimmt, wird schnell feststellen, wie sehr sich das Orchester personell verändert hat. Von den 187 Musikern damals sind heute nur noch 86 Musiker dabei.

Interessant sind auch diese Zahlen: 23 Musikerinnen gehörten damals dem Orchester an, heute sind es 51. Dabei sticht die Flötengruppe heraus. Gab es dort vor 21 Jahren nur eine einzige Frau, hat sich das Verhältnis inzwischen genau umgekehrt: Heute spielt nur ein einziger Mann in dieser Gruppe. (In der Horngruppe könnte es einst genauso sein: Nach Redaktionsschluss für die Porträtgalerie wurde mit Juliane Grepling die erste Hornistin im Gewandhausorchester engagiert. Wir werden sie in einer der nächsten Ausgaben vorstellen.) Unverkennbar ist der gestiegene Frauenanteil auch bei den hohen Streichern: Bald die Hälfte ist weiblich. Wird der berühmte Streicherklang des Gewandhausorchesters zunehmend feminin?

Auch wenn wir Riccardo Chailly nicht gezielt nach dem Genus des Gewandhausorchesterklangs fragten, ist die Antwort des Gewandhauskapellmeisters eindeutig: »Wir wollen, dass der Klang nicht verändert wird, sondern bewahrt bleibt.« Und das können Musikerinnen offensichtlich genauso gut wie ihre Kollegen, sonst würde »die wohl größte Findungskommission der Welt« (Chailly im Interview dieser Ausgabe) nicht immer mehr Frauen für das Gewandhausorchester auserwählen.

Riccardo Chaillys Erzählung, wie er bei seiner ersten Probe mit dem Gewandhausorchester eine Klangexplosion erlebte (ebenfalls im Interview zu lesen), hat Tibor Hegedues zur Gestaltung unseres Hefttitels inspiriert. Der erste Takt des »Don Juan« von Richard Strauss war es, mit dem das Orchester den damals 33-jährigen Dirigenten überrollte wie ein »positiver Tsunami«. Ob es Strauss ähnlich ergangen ist, als er mit diesem Orchester seinen »Don Juan« aufführte? Am 20. Februar 1899 war das. Auf den Tag genau 54 Jahre später wurde in Mailand ein Knabe geboren und auf den Namen Riccardo getauft. 44 Jahre später kam dieser (einstige) Knabe erstmals nach Leipzig.

Richard Strauss kam 1934 zum letzten Mal nach Leipzig. Wie oft zuvor er hier war, ist unseres Wissens noch nie zusammenhängend dargestellt worden. Wir tun es in diesem Heft. Wobei wir ob der Fülle der Daten drei Kapitel von vornherein ausklammern mussten: Strauss und die in Leipzig erfolgte Gründung der Genossenschaft Deutscher Komponisten; Strauss und seine Leipziger Verleger; Strauss und sein erster Biograph Gustav Brecher.

Leipzigs Operndirektor Gustav Brecher dirigierte am 4. März 1933 letztmals das Gewandhausorchester. Wegen seiner jüdischen Herkunft wurde er des Amtes enthoben. Gleiches widerfuhr kurz darauf Gewandhauskapellmeister Bruno Walter. Gerade an dem Tag, an dem es um das Gewandhaus hoch herging, war Richard Strauss in der Stadt. Ein Zufall, gewiss. Das jedoch kann den seinerzeit »größten lebenden deutschen Komponisten« nicht entlasten: Er hätte sich mit den Pultkollegen Brecher, Walter und weiteren solidarisieren können. Dass er es nicht entschieden und unmissverständlich tat, macht das ganze Kapitel Strauss auch im Jubiläumsjahr des Komponisten zu einem Schwer-Punkt.

Claudius Böhm