Höchste Zeit also, sich intensiv mit dem 10. Gewandhauskapellmeister (1860–1895) zu beschäftigen, zu dessen Verdiensten auch die Gründung des GewandhausChores, die Ausbildung zahlreicher Komponistinnen und Komponisten von Weltrang sowie die Uraufführung vieler Werke von Komponisten wie Brahms, Grieg und anderen am Leipziger Gewandhaus zählen.
Die ersten Erfolge fuhr Reinecke als Pianist ein. Seinen Namen machte er sich als »der vorzüglichste Dolmetsch der Mozartschen Klaviermusik« – zu diesem Ruhm gehören auch seine Kadenzen, die er für die Klavierkonzerte Mozarts komponiert hat. Obgleich sie auch verlegt wurden, sind sie heute nahezu unbekannt. Mao Fujita entreißt bei seinem Auftritt im Großen Concert die Reinecke-Kadenzen zu Mozarts Klavierkonzert d-Moll KV 466 dem Vergessen.
Vergessen wurde auch, dass Carl Reinecke ein ungewöhnlich großes Repertoire für Klavierduo komponiert hat. Der Klavierabend mit dem Klavierduo Genova & Dimitrov, das vor kurzem eine drei (!) CDs umfassende Gesamteinspielung der Werke für Klavierduo vorgelegt hat, macht einige dieser Schätze im Gewandhaus hörbar.
Die größten Erfolge seines Lebens bescherten Reinecke seine Kompositionen für Kinder. Mit einem guten Dutzend vertonter Märchen – meist für Kammerensembles, Gesang und Sprecher – begründete er einen neuen, ausgesprochen populären Literaturzweig. Schneewittchen op. 133, Dornröschen op. 139 oder Die wilden Schwäne op. 164 (deren Dichter Hans Christian Andersen Reinecke persönlich kannte) verzaubern noch heute. Der GewandhausKinderchor bringt Teile daraus in einem Konzert auf die Bühne und spielt zusätzlich Die wilden Schwäne in einer szenischen Aufführung.
Das große Oratorium Belsazar brachte der GewandhausChor zum 25-jährigen Dienstjubiläum seines Gründers 1885 unter dessen Leitung zur Aufführung. Danach geriet es nahezu in Vergessenheit. Die Wiederaufführung durch den GewandhausChor 200 Jahre nach der Geburt des Komponisten kommt einer zweiten Uraufführung also sehr nah.
Den Sinfonien Reineckes ist es nicht viel besser ergangen. Die zweite und dritte Sinfonie verschwanden nach ihrer Uraufführung im Gewandhaus aus dem Bewusstsein der Musikwelt und später gab es im Gewandhaus lediglich eine, bzw. zwei Wiederholungen. In Orchesterkonzerten im Rahmen des diesjährigen Reinecke-Fokus erwecken nun Ruth Reinhardt (mit dem Gewandhausorchester) und Matthias Foremny (mit dem Sinfonieorchester der HMT Leipzig) die beiden Sinfonien aus ihrem Dornröschenschlaf.