Editorial

»Das zukünftige Geschick des Kindes ist immer das Werk der Mutter.« Das soll Napoléon Bonaparte gesagt haben. Gerade ist der Völkerschlacht bei Leipzig vor 200 Jahren gedacht worden. Da mag es wenig opportun sein, den Korsen zu zitieren. Aber der Satz könnte auch von dem Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz stammen, den wir vor einem Jahr interviewt hatten (siehe Nr. 77). So mag er getrost unsere aktuelle Winterausgabe einleiten. Denn er passt, mag er nun stimmen oder nicht, zum Titelthema unseres Heftes: Musikerinnen als Mütter – sind Familie und Musikerberuf gut unter einen Hut zu bringen?

Das Ganze allein aus der Perspektive der Mütter zu betrachten, wäre uns allerdings zu wenig gewesen. Der Gewandhaus-Kinderchor veranstaltet alljährlich ein besonderes Konzert unter dem Titel: »Groß werden – das tägliche Chaos«. Davon angeregt haben wir drei »Chorkinder« gefragt, wie das Großwerden aussieht, wenn die Eltern von Beruf Musiker sind. Ist dort das »tägliche Chaos« ein anderes als bei »normalen« Eltern?

Die Sicht auf den Beruf der Mutter, wie fällt sie aus bei längst erwachsenen Kindern? Das fragten wir drei Geiger und eine Flötistin des Gewandhausorchesters, deren Mütter allesamt Musikerinnen waren und zum Teil noch sind. Mit Erstaunen stellten wir fest, wie wenig die Musikerinnensöhne bislang reflektiert haben, was es für ihre Mütter seinerzeit bedeutet hat, Karriere und Familie unter einen Hut zu bringen. Doch statt darüber den Kopf zu schütteln, dürfen wir uns alle an die eigene Nase fassen: »In Deutschland gibt es generell zu wenig Wertschätzung für Mütter«, beklagte kürzlich dieZeit.

Die junge Frau auf unserem Titelbild, was hat sie mit dem Titelthema zu tun? Wir ahnen schon den Vorwurf: ›Jetzt läuft auch das Gewandhaus-Magazin dem Mainstream hinterher und versucht, die Leserschaft mit blonden Schönheiten zu ködern.‹ Dabei hat unsere Entscheidung für Marie Friederike Schöder vorrangig inhaltliche Gründe: Die Koloratursopranistin und Bach-Preisträgerin ist die Tochter einer Musikerin und eines Musikers und hat bei der eigenen Mutter studiert. Hier verdichtet sich unser Thema »Musikerinnenmütter und -kinder« in besonderer Weise.

Das Titelthema hat auch in unserer Literaturkolumne und im Beitrag »Post von Louis Brassin« Niederschlag gefunden. Brassin, der seinerzeit mehrmals im Gewandhaus gastiert hat, ist ein Musikerkind gewesen. Die Story, die sich um ihn und seine beiden jüngeren Brüder rankt, ist dermaßen hanebüchen, dass sie auch bestens zu »Groß werden – das tägliche Chaos« passen würde: Ein Vater will seine Söhne als Wunderkinder präsentieren und gibt sie deswegen um Jahre jünger aus, als sie tatsächlich sind. Dann aber möchte er, dass sie studieren; also werden sie wieder etwas älter gemacht, wenngleich nicht so alt, wie sie wirklich sind ... Das damit angerichtete Chaos der Geburtsjahre herrscht bis heute. Wir konnten es entwirren.

Die Kinder von Rufus Beck wären beinah auch Musikerkinder geworden und könnten heute Auskunft geben über das Großwerden in einer Musikerfamilie. Rufus Beck aber entschied sich statt für den Musikerberuf für den des Schauspielers. Mit Musik sind seine Kinder dennoch aufgewachsen. Im Interview berichtet der 56-Jährige von seiner Erziehungsmethode: »Ich habe ihnen nicht gesagt, sie müssten die Instrumente erlernen, weil es wichtig für ihr Leben, ihr Vorankommen oder ihre Chancen wäre. Sondern ich habe ihnen nur gesagt: ›Ich finde es so schön, wenn ihr spielt.‹« Zwar hat die Masche nicht auf Dauer funktioniert, aber darin eine Bestätigung der Eingangsthese zu sehen – eben die Mütter und nicht die Väter entschieden über das Schicksal ihrer Kinder –, das ginge uns zu weit. Lieber zögen wir das Napoléon-Zitat denn doch zurück.

Claudius Böhm